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Chemie-Pflegerente:

Stottern vor dem Start?

In diesen Tagen beginnt der Vertrieb für die bundesweit erste tarifvertragliche Pflegeabsicherung einer ganzen Industriebranche. Zur Unzeit kommt dabei der Rückzieher des Ideengebers DFV aus dem Erstversicherer-Konsortium. Hat man sich verrechnet? LbAV-Autor Detlef Pohl hat sich nach Hintergründen bei den Konsorten der „CareFlex Chemie“ erkundigt.

 

Bei Benefits für die Mitarbeiterbindung bekommt die bAV zunehmend Konkurrenz: Im Tarifabschluss von Chemie/Pharma des Chemie-Arbeitgeberverbandes (BAVC) und der IG Bergbau Chemie Energie (IG BCE) Ende 2019 stand zwar primär eine Barlohnerhöhung im Vordergrund, deren zweite Stufe 1,3% mehr Entgelt ab Juli 2021 bringt.

 

Doch ab Juli 2021 gibt es zudem erstmals in Deutschland für alle Tarifbeschäftigten der Chemie- und Pharmabranche eine vom Arbeitgeber bezahlte betriebliche Pflegefallabsicherung. Kostenpunkt: 33,65 Euro pro Monat und Mitarbeiter. Dafür wird es 300 Euro Pflegegeld pro Monat bei ambulanter Pflege geben und 1.000 Euro bei stationärer.

 

Das Produkt nennt sich „CareFlex Chemie“ und sollte ursprünglich von einem Konsortium aus Barmenia (20% Anteil), DFV Deutsche Familienversicherung (35%) und R+V (45%) bereitgestellt werden. Die Geschäfte sollten R+V und DFV führen; letztere sollte zudem für das Produkt sowie die Bestandsführung verantwortlich sein.

 

Überraschender Rückzug

 

Kurz vor dem für diesen Januar geplanten Vertriebsstart gab es aber eine Verschiebung der Konsortialaufteilung: R+V und Barmenia führen das Konsortium künftig gemeinsam paritätisch; die DFV dagegen scheidet aus dem Konsortium aus und wird diesem nur als Rückversicherer verbunden bleiben. „Für die Kunden und Partner ändert sich dadurch nichts; R+V ist weiterhin geschäftsführender Konsortialführer, Barmenia übernimmt die Konsortialführerschaft für Produkt und Bestandsführung“, heißt es in einer gemeinsamen Presserklärung der drei Krankenversicherer von Ende Dezember. Somit könne CareFlex Chemie wie geplant anlaufen.

 

Verkalkuliert?

 

Zum Hintergrund der für Außenstehende überraschenden Änderung – immerhin hatte die DFV ursprünglich die Idee für die Chemie-Pflegerente – verlautet in dieser Meldung nichts. Konkreter ist da die Ad-hoc-Mitteilung der an der Frankfurter Börse notierten Deutsche Familienversicherung AG vom 30. Dezember 2020:

 

Stefan Knoll, DFV.

Danach scheidet die DFV als Konsorte der Erstversicherer aus, und zwar „auf Basis einer intensiven Kommunikation mit der BaFin zum Nachweis einer ausreichenden Sicherheit bei der Kalkulation des Rechnungszinses von CareFlex Chemie“Angesichts des erwarteten zusätzlichen Kapitalanlagevolumens von 50 Mio. Euro pro Jahr fand man bei der DFV das Risiko, den einzukalkulierenden Rechnungszins zu erwirtschaften, in Relation zu den Vorteilen als Erstversicherer im Konsortium offenbar zu groß. Daraufhin machte der Vorstand einen Rückzieher: Die DFV werde mit der Barmenia einen Rückversicherungsvertrag abschließen und so im Projekt verbleiben. Die Verantwortung für Produkt und Bestandsführung gehe an die Barmenia über.

 

Oder kalte Füße wegen der Märkte?

 

Die Erklärung könnte den Schluss nahelegen, dass die DFV sich beim CareFlex-Tarif verkalkuliert hat. Oder sind es die komplizierter werdenden Kapitalmärkte, vor denen man passt? Der Versicherer, dessen eigene Aktie nach der Ad-hoc-Mitteilung um mehr als ein Drittel nachgab, macht für die Neubewertung der Lage die weiter schwer einschätzbare Corona-Pandemie verantwortlich. So heißt es in der Pflichtmitteilung:

 

Der CareFlex-Tarif ist Ende 2019 in einer Phase von wirtschaftlicher Prosperität kalkuliert und aufgelegt worden. Ausgelöst durch die weltweite Corona-Pandemie kam es in Deutschland zu zwei Infektionswellen und zwei Lock-Downs der Wirtschaft. Ein Ende des jetzigen Lock-Downs ist nicht absehbar.“

 

Als Rückversicherer – so die Ad-hoc weiter – übernehme man nun nicht mehr das Risiko der Kapitalanlage, sondern nur noch die versicherungstechnischen Risiken, die keinen Einflüssen durch die Corona-Pandemie oder deren wirtschaftliche Folgen unterlägen.

 

Durch das Ausscheiden als Erstversicherer aus dem Konsortium wird die DFV den ursprünglich geplanten Bestandszuwachs 2021 von 70 Mio. Euro brutto wohl verfehlen. Stattdessen rechnet der Vorstand damit, als Rückversicherer 40 Mio. Euro Bestandszuwachs zu schaffen. Für 2021 rechnet man „vor diesem Hintergrund noch nicht mit einem positiven Ergebnis“.

 

Zugeknöpft

 

Damit dürften die ehrgeizigen Wachstumspläne der Frankfurter Assekuranz einen kräftigen Dämpfer bekommen. Um mehr Hintergründe zu den genannten 50 Mio. Euro zusätzlichen Kapitalbedarf zu erfahren, hatte LEITERbAV bereits zum Jahreswechsel nachgehakt. Den Autor interessierte insbesondere:

 

  • Auf welcher Zinsbasis beruhen die 50 Mio. Euro zusätzliches Kapitalanlagevolumen bei der DFV pro Jahr?

  • Wie hatte die DFV ursprünglich kalkuliert? Angesichts der Niedrigzinsen kann doch der Unterschied nicht so groß gewesen sein?

  • Der Rückzug als Erstversicherer im CareFlex-Konsortium gleicht doch einer kalkulatorischen Fehleinschätzung, oder?

  • Wie kann man unter diesen Vorzeichen plötzlich als Rückversicherer agieren – auf welcher Kalkulationsbasis?

  • Was steht dazu im Rückversicherungsvertrag mit der Barmenia? In welchem Verhältnis teilt man sich die Rückversicherung?

  • Rechnen Sie Sie mit weiteren Produkteinschränkungen im DFV-Portfolio?

 

Trotz mehrfacher Nachfrage im Interesse der Leserschaft kam bis Redaktionsschluss keine Antwort. Eine solche Zugeknöpftheit dürfte das Vertrauen der Tarifparteien und der Begünstigten der Chemie-Pflegerente nicht gerade stärken. Dennoch bleibt es beim vereinbarten Versicherungsbeginn zum 1. Juli 2021. Die chemische Industrie hat rund 580.000 Mitarbeiter, darunter 435.000 Tarifbeschäftigte. „Außertariflich Beschäftigte können ebenfalls CareFlex Chemie erhalten, wenn ihr Arbeitgeber dies vereinbart“, betont die R+V gegenüber LEITERbAV.

 

Wie lange hält die Kalkulation?

 

Die Tarifpartner haben hochstehende Erwartungen. Ob das alles so kommt und auf Dauer bezahlbar bist, bleibt abzuwarten. Die Versicherer garantieren den kollektiven Beitrag von 33,65 Euro pro Monat sowie die dargestellten Leistungen nur bis zum 31. Dezember 2023. Anpassungen des Beitrags oder der Leistungen sind ab 2024 möglich, wenn ein externer Treuhänder dies nach Prüfung objektiver Rahmenbedingungen bestätigt. Genau das ist bei den privaten Pflegetagegeldversicherungen zahlreicher Versicherer im letzten Jahr häufig passiert – teilweise mit Beitragssprüngen von 20% und mehr.

 

Petra Lindemann, BAVC.

Für die Tarifvertragsparteien BAVC und IG BCE ist es entscheidend, dass sich diese Anpassungen nicht automatisch vollziehen, sondern eine Beitragserhöhung oder alternativ eine Reduzierung der Leistungen in jedem Fall der Zustimmung beider Tarifvertragsparteien bedarf“, sagt Petra Lindemann, BAVC-Geschäftsführerin Tarifpolitik, Arbeitsrecht und Arbeitsmarkt, zu LbAV. Das Auffangen von Mehrkosten durch die Arbeitgeber könnte im Zusammenhang mit einer künftigen Tarifrunde erfolgen. Da alles innerhalb eines Gruppenvertrages organisiert wird und damit keine individuellen Gesundheitsprüfungen nötig sind, kommt es auf besonders solide Kalkulation seitens der Versicherer an. Sie würden dazu auch nach dem Start ständig die Entwicklung des versicherten Kollektivs, die Sterbetabellen und Leistungsfälle beobachten, erklärten die Tarifpartner vor fünf Monaten. Doch nun also stottert der Motor womöglich schon vor dem Start.

 

Arbeitnehmer haben die Möglichkeit, die vom Arbeitgeber bezahlte obligatorische Pflegerente mit zwei Modulen freiwillig und individuell aufzustocken. Als Vorbild solcher Module dient ein Pilotmodell, das die IG BCE Anfang 2019 mit dem Dax-Konzern Henkel vereinbart hatte (Versicherer: DFV). Auch bei freiwilligen Modulen ergeben sich womöglich neue Fakten zur Kalkulation und Preisbildung.

 

Die Tarifpartner sind jedenfalls, gerade in Zeiten der Pandemie, gut beraten genau hinzuschauen – jetzt und in der Zukunft.

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