Das Forum für das institutionelle deutsche Pensionswesen

Die Inflation und die bAV (I):

Something else matters

Dachte man viele Jahre, dass in diesen Zeiten nichts als der Diskontzins die einzige relevant wirksame Größe zur bilanziellen Abbildung von Pensionslasten der Direktzusage darstellt, hat sich seit circa zwölf Monaten ein anderer Parameter zurückgemeldet: die Geldentwertung. Größenordnungen der Folgen für die Bilanzen zu ermitteln ist hier naturgemäß nicht einfach. LbAV-Autorin Susanne Jungblut hat sich umgehört.

Christof Quiring, Fidelity.

Ein in Deutschland lange nicht gesichtetes Gespenst ist zurück: die Inflation. Aktuell liegt der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr laut Statistischem Bundesamt bei rund 10%. Für das gesamte Jahr 2022 erwarten die Fünf Wirtschaftsweisen Medienberichten zufolge eine Inflation von rund 8% – und für 2023 immer noch 7,4%. Zwar liegt das langfristige Inflationsziel der EZB mit 2% nicht allzu wesentlich über dem bis Juli des Vorjahres proklamierten Ziel von „unter, aber nahe 2%“, aber kurz- und mittelfristig wird diese Marke überschritten werden. So hat Christof Quiring, Leiter betrieblicher Vermögensaufbau bei Fidelity International, jüngst auf der Handelsblatt-Jahrestagung bAV dargelegt, dass Fidelity für die nächsten 10 Jahre eine Inflation in der Eurozone von 2,7% erwartet. Diese Aussichten bieten Anlass genug, einen Blick auf die laut Wilhelm-Friedrich Puschinski, Chefaktuar bei WTW, „zweitwichtigste Bewertungsannahme zum Jahresende“, nämlich die Inflationsannahme, zu werfen.

Spielt die Inflationsannahme überhaupt noch eine Rolle?

Inwieweit die Inflationsannahme den Verpflichtungsumfang beeinflusst, hängt maßgeblich von dem Bestand der Versorgungsberechtigten und den relevanten Pensionszusagen ab. Während Pensionspläne in der Vergangenheit oft endgehaltsabhängig und mit einer Anpassungsregelung für die laufenden Renten nach VPI ausgestaltet und damit „maximal inflationsabhängig“ waren, wurden diese Zusagen in der jüngeren Vergangenheit zumeist durch weniger gehaltsabhängige Strukturen sowie Kapitalzahlungen oder 1%-Anpassungen laufender Renten abgelöst.

Typische Bestände, erläutert Puschinski, zeichnen sich heute durch folgende Merkmale aus: „Durch zurückliegende Neugestaltungen ist die Rückstellung für Anwärter nur noch im geringen Umfang abhängig von der erwarteten Gehalts- oder BBG-Entwicklung und damit vergleichsweise robust gegenüber Veränderungen der Inflationsannahme. Anders verhält es sich beim Rentnerbestand. Auch wenn bei neueren Zusagen (ab 1999) die befreiende 1-Prozent-Anpassung eingeführt wurde, so dominiert dort doch in aller Regel die VPI- und damit inflationsbasierte Anpassung.“

Friedemann Lucius, IVS und Heubeck.

Dies deckt sich mit der Einschätzung von Friedemann Lucius, IVS-Vorstandschef und Vorstandssprecher der Heubeck AG, auf dem jüngsten IVS-Forum. Danach unterliegen geschätzt gut zwei Drittel der laufenden Betriebsrenten der VPI-Anpassungsregelung und sind insofern inflationsgeschützt.

Die Inflationsannahme schlägt heute also vor allem über den Rententrend auf den Verpflichtungsumfang durch. Und sie kann, in Abhängigkeit vom Bestand, durchaus 40% – und mehr – der Versorgungsverpflichtungen betreffen. Schließlich entfielen 2020 nach den Zahlen von Ralf Klein, Hoechster Penka, fast 55% der Deckungsmittel der Direktzusagen auf laufende Renten. Hinzu kommen ggf.Anwartschaften älterer Anwärter, deren spätere Renten noch nach VPI anzupassen sind.

Inflationsannahme festlegen – gleiche Methodik …

Um die Inflationsannahme festzulegen, kombinieren Aktuare regelmäßig kurz- und langfristige Überlegungen. Hierbei verwendet jedes Aktuarhaus sein eigenes Verfahren; teilweise wird – wie beispielsweise bei WTW – aus geeigneten verfügbaren Informationen, die zum Teil noch um Sondereinflüsse bereinigt werden, eine Inflationskurve hergeleitet.

Das Inflationsziel der EZB von 2% bietet nach wie vor den langfristigen Orientierungspunkt. Kurz- und mittelfristig liegen die Markterwartungen aber deutlich darüber. Dies lässt sich ablesen aus landesspezifischem Inflationsprognosen externer Organisationen, Inflation Swaps, einem Vergleich inflationsindizierter und nominaler Staatsanleihen, Prognosen des BMF und des IWF für Deutschland sowie aus Einschätzungen volkswirtschaftlicher Experten aus dem Banken- und Versicherungsbereich.

Christiane Grabinski, RZP.

Bei der Verwendung dieser Marktinformationen ist jedoch Vorsicht angebracht. So weist Christiane Grabinski, Partnerin bei RZP, darauf hin, dass für die Bewertung deutscher Pensionsverpflichtungen naturgemäß die künftige Entwicklung der deutschen Verbraucherpreise benötigt wird, entsprechende Finanzinstrumente aber häufig auf die europäische Inflationserwartung abstellen. Zudem werden die hier herangezogenen Finanzinstrumente, so Thomas Hagemann, auch durch kurzfristige Marktturbulenzen beeinflusst. Die daraus resultierende Volatilität wäre im Hinblick auf die langfristige Annahme für den Jahresabschluss nicht sachgerecht. „Gleichwohl liefert die Markterwartung aber wichtige Anhaltspunkte für die Festlegung der Inflationsannahme“, erläutert Mercers Chefaktuar.

Gundula Dietrich, Aon.

Schließlich spielt bei der Festlegung der unternehmensspezifischen Inflationsannahme auch die Duration der zu bewertenden Verpflichtungen eine Rolle. „Bei hohen Durationen ist die Langfristeinschätzung der EZB von höherem Gewicht, bei kurzen Durationen eher die Mittelfristprognosen“, führt Mark Walddörfer, Partner bei Gassner und Partner, aus.

Diese Überlegungen sind alle nicht neu und sollten auch in diesem Jahr grundsätzlich demselben Ansatz und derselben Methodik wie in den Vorjahren folgen. Schließlich, so betont Gundula Dietrich, Head of Wealth Germany von Aon, „handelt es sich bei einem Umschwenken auf eine andere Ableitungsmethodik ggf. um einen Methodenwechsel mit den entsprechenden Erfordernissen von Anhangsangaben gemäß IAS 8.“

andere Höhe

Günter Hainz, H2B.

Abgesehen von der Höhe der – tatsächlichen und geschätzten – Inflationsraten ist soweit also alles wie gehabt. Stärker als in der jüngeren Vergangenheit ist dieses Jahr auch ein zum Bilanzstichtag aufgelaufener „Inflationsstau“, also eine noch anstehende Erhöhung der Renten um den aus der bisherigen Entwicklung resultierenden Anpassungsbedarf, zu beobachten. Auf diesen weist Günter Hainz, Geschäftsführer bei H2BAktuare, explizit hin, und er betont: „Dieser Inflationsstau ist natürlich – implizit oder explizit – bei der Jahresendbewertung zu berücksichtigen.“

Bandbreiten

Die befragten Aktuare sehen für die Inflationserwartung zum Jahresende im Wesentlichen eine Bandbreite je nach Laufzeit der Verpflichtungen zwischen 2,0% und 2,5%:

Aon: 1,9% – 2,7%

Gassner und Partner: 2,0% – 2,5%

H2b Aktuare: 2,0% – 2,5%

Heubeck: 2,0% – 2,4%

Mercer: 1,9% – 2,5%

RZP-Aktuare: 2,0% – 2,5%

WTW: 2,0% – 2,5%

Wie Hainz betonen dabei auch Hagemann und Walddörfer, dass der derzeit (hoffentlich) kurzfristig abweichenden Entwicklung Rechnung zu tragen ist, eventuell, so Walddörfer, durch Einbezug einer Staffel, die kurz- bis mittelfristig höher Werte und langfristig niedrigere Werte berücksichtigt. Hainz sieht, bezogen auf den jeweils maßgeblichen Dreijahreszeitraum, für Anpassungen in den Jahren 2023 und 2024 eine insgesamt 20prozentige Teuerungsrate.

1 versus 3

Wie oben dargelegt, ist die Inflationsannahme heute vor allem für den Rententrend von Bedeutung. Dieser ist nicht gleich der Inflationsannahme – selbst, wenn man den Rententrend isoliert für den Teilbestand berücksichtigt, für den die VPI-Anpassung maßgeblich ist. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Anpassungen im Rahmen der Anpassungsprüfungspflicht alle drei Jahre erfolgen, technisch aber oftmals ein einjähriger Trend angesetzt wird.

Mark Walddoerfer, Gassner und Partner.

Damit es nicht zu einer Überbewertung kommt, ist auf die Inflationsannahme ein Abschlag von etwa 0,1 Prozentpunkten vorzunehmen, um den geeigneten Rententrend zu erhalten (siehe Thomas Hagemann,Bewertungsannahme Rententrend – was bedeutet der Anstieg der Inflation?“, www.mercer.de). Bei Anwartschaften, so ergänzend Hagemann, fällt der Abschlag höher aus.

Walddörfer hatte im Oktober gegenüber LEITERbAV ausgeführt, dass die Pensionsrückstellungen in den Unternehmensbilanzen bislang typischerweise einen Rententrend von 1,75% bis 2,5% berücksichtigen. Vergleicht man diese Bandbreite mit den oben aufgeführten aktuellen Inflationserwartungen und berücksichtigt man den erläuterten Abschlag zur Einpreisung des Dreijahresturnus der Anpassung, ergibt sich also eine Erhöhung des Rententrends für den betroffenen Bestand um 0,25 bis 0,5 Prozentpunkte über die gesamten Laufzeiten.

Summa summarum für das typische Unternehmen …

Auch wenn es den typischen Bestand nicht gibt, stellt sich doch die Frage, wie sehr sich die Pensionsrückstellungen durch die gestiegene Inflationsannahme erhöhen. Für einen typischen Rentnerbestand, in dem die gemäß VPI anzupassenden Renten dominieren, schätzt Puschinski, dass sich durch Erhöhung des Rententrends um 0,25 Prozentpunkte sowie einer Berücksichtigung der absehbar hohen Rentenanpassungen in den Jahren 2023 bis 2025 die Rückstellung um 7% bis 10% erhöhen wird. Hagemann geht von ähnlichern Größenordnungen aus, nämlich um 8% für den von der VPI-Anpassung betroffenen Teilbestand, basierend auf einer Erhöhung der Rentendynamik um 0,5 Prozentpunkte. Wolfgang Schmitz, Prokurist und Teamleiter im Aktuarbereich bei Heubeck, beobachtet für typische Mischbestände bei einer Rententrendanhebung um 0,5 Prozentpunkte eine Erhöhung der Rückstellung für den von der VPI-Anpassung betroffenen Teilbestand um 5% bis 7,5%.

Rafael Krönung, Aon.

Für das einzelne Unternehmen ist weiter die Frage entscheidend, welcher Teil der Versorgungsverpflichtungen auf Rentner und gegebenenfalls auch noch Anwärter entfällt, für die Renten entsprechend dem VPI zu erhöhen sind. Unter der oben dargelegten Annahme, dass dies leicht 40% des Bestandes betreffen kann, und ausgehend von dem Mittelwert der hier genannten Erwartungen ergibt sich zum Jahresende eine gesamte Erhöhung der Pensionsrückstellung um etwa 3%. Diese Größenordnung deckt sich mit der Einschätzung von Rafael Krönung, die er auf der Handelsblatt-Jahrestagung bAVvorgetragen hat: Der CEO Wealth Germany von Aon geht von einer Steigerung des Verpflichtungsumfangs um 2% bis 4% aus.

Laut einer Berechnung der RZP-Aktuare ist dieser Wert für manch ein Unternehmen möglicherweise zu vorsichtig. Sie haben die Auswirkung einer um 0,5 Prozentpunkte erhöhten Inflationsannahme auf zwei typische Bestände ermittelt (jeweils basierend auf dem Zinsniveau zu Beginn des Jahres 2022). In einem Fall gehen sie davon aus, dass quasi keine Gehaltsabhängigkeit mehr existiert und auch schon ein bestimmter Anteil von 1%-Anpassungen sowie von Kapitalzusagen vorhanden ist. Hier führt ein Anstieg der Inflationserwartung um 0,5 Prozentpunkte zu einer Erhöhung der DBO um etwa 5,5%. In einer zweiten Betrachtung besteht bei einem Großteil der Zusagen noch eine Gehalts- und BBG-Abhängigkeit, sodass neben dem Rententrend auch ein Gehaltstrend maßgeblich zu berücksichtigen ist. In diesem Fall führt der Anstieg der Inflationserwartung zu einer Erhöhung der DBO um etwa 8%.

und die gesamte Volkswirtschaft

Geht man also – etwas aggressiver – von einer Erhöhung des Verpflichtungsumfangs um 4% bis 5% aus und setzt mit Klein den Betrag der Deckungsmittel der Direktzusagen 2020 von 315,5 Mrd. Euro an, ergibt sich eine bilanzielle Belastung der Wirtschaft durch die gestiegene Inflation von 12,5 bis 16 Mrd. Euro allein aus Direktzusagen – hinzu kommen Belastungen aus den anderen Durchführungswegen.

HGB und IFRS

Wilhelm-Friedrich Puschinski, WTW

Nun ist zu bedenken, dass unter IFRS der Zinssatz zur Abdiskontierung der DBO aufgrund der Entwicklungen an den Kapitalmärkten deutlich höher angesetzt werden wird als zum Jahresende 2021. Dies wird den Effekt des Inflationsanstiegs laut Hagemann in der Regel überkompensieren (es ist wohl überflüssig zu betonen, dass die Inflation nichtsdestoweniger eine bilanzielle Belastung bedeutet, würde doch ohne diese der Rückstellungsbetrag deutlich stärker sinken. Außerdem hat eine Änderung des Diskontzinses anders als die Inflation keinerlei Cashflow-Wirkung auf die tatsächlich zu zahlenden Renten.)

Anders die Bilanzwirkung unter HGB: Lucius weist darauf hin, dass hier der Effekt durch den (aufgrund der Durchschnittsbildung) derzeit sogar noch sinkenden Rechnungszins beide Parameter den Verpflichtungsumfang erhöhen. Der Gesamteffekt ist außerdem erfolgswirksam zu erfassen. Hagemann: „Das ist eine erhebliche Belastung des HGB-Abschlusses in einer wirtschaftlich ohnehin schwierigen Zeit.“

Alles nur bilanziell?

Der Anstieg des Verpflichtungsumfangs ist keine „bilanzielle Spielerei“. Vielmehr spiegelt er die zusätzlichen Belastungen des Arbeitgebers aus künftig anstehenden Rentenanpassungen wider. Ein großer Teil davon wird auf die in den kommenden Jahren fällig werdenden Rentenerhöhungen entfallen – also in einer Zeit, die erwartungsgemäß von schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt sein wird.

Deswegen ist es durchaus denkbar, dass viele Unternehmen die nächsten Anpassungen aus wirtschaftlichen Gründen unterlassen müssen „Teilweise haben Unternehmen das auch schon heute angekündigt“, weiß Hagemann zu berichten. Es bleibt also abzuwarten, wie die Belastungen der Inflation letztendlich zwischen Arbeitgebern und Rentnern verteilt sein werden, bekanntlich ein häufiges Streitthema.Am Ende wartet vermutlich nicht nur viel Arbeit auf die Aktuare. Sondern auch auf die Juristen.

 

Das zur heutigen Headline anregende Kulturstück findet sich hier.

 

Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

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