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IVS-Forum 2022:

„So wie bisher kann es nicht weitergehen.“

Die deutschen Versicherungs- und Pensionsaktuare haben sich gestern damit befasst, inwiefern die betriebliche Vorsorge jüngerer Generationen in diesen Zeiten dynamischer Inflation von drei Seiten in die Zange genommen wird – und halten die Frage der Generationengerechtigkeit für dringender denn je. Und machen direkt einen Vorschlag. LbAV-Autor Detlef Pohl war dabei.

 

Bereits beim vorjährigen 15. IVS-Forum hatte das Institut der Versicherungsmathematischen Sachverständigen für Altersversorgung (IVS), Zweigverein der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV), die drängendsten Fragen zu den Rahmenbedingungen für die bAV auf die Tagesordnung gesetzt.

 

Gestern in Köln also das 16. IVS-Forum, und das Programm ist noch pointierter – weil die Welt noch ein Stück komplizierter geworden ist. Stichworte, die jedes Aktuar-Herz schneller schlagen lassen dürften: technische Aspekte der reinen Beitragszusage, aktuelle Entwicklung kollektiver Risikoabsicherung, Auswirkung steigender Inflation auf EbAV, Zeitenwende am Kapitalmarkt, steuerliche Risiken aus pauschalen Rückstellungsverstärkungen…

 

Wie stets vor dem Forum besagtes Web-Pressegespräch. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie sich die aktuelle Inflationsdynamik und die steigenden Zinsen auf die hiesige bAV auswirken.

 

Dass Schluss sein müsse mit der Garantiefixierung, hat das IVS schon lange, z.B. 2020 klargemacht.

 

Friedemann Lucius, IVS und Heubeck.

Gestern nun legt IVS-Vorstandschef Friedemann Lucius nach. „Der überwiegende Teil der laufenden Betriebsrenten ist gegen Inflation geschützt, doch für Anwärter gibt es diesen Schutz häufig nicht, und die Ansprüche werden durch die Inflation mehr oder weniger stark entwertet.“

 

Der Hintergrund ist bekannt: Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, spätestens alle drei Jahre die Höhe der laufenden Betriebsrenten zu prüfen und nach billigem Ermessen anzuheben. Werden Renten an den Verbraucherpreisindex für Deutschland (VPI) oder die Nettolohnentwicklung vergleichbarer Arbeitnehmergruppen angepasst, entfällt die Prüfungspflicht. Für Zusagen, die nach 1998 erteilt wurden, besteht zudem die Möglichkeit, der Anpassungsprüfungspflicht zu entgehen, wenn die laufenden Renten jedes Jahr um 1,0% angehoben werden. „In der Praxis unterliegen geschätzt 70 Prozent der laufenden Betriebsrenten der VPI-Anpassungsregelung und sind insofern inflationsgeschützt“, so Lucius, im Hauptberuf Vorstandssprecher der Heubeck AG.

 

Junge zusehends unter Druck

 

Anders bei Anwärtern: Endgehaltsabhängige Systeme, die durch Leistungszusagen mit festem Eurobetrag einen gewissen Inflationsschutz durch die Entgeltdynamisierung gewähren, kommen in der Praxis kaum noch vor. Beitragsorientierte Leistungszusagen, bei denen der Beitrag gehaltsabhängig festgelegt ist, sind heute der Standard, bieten jedoch allenfalls eingeschränkten Inflationsschutz über die Gehaltsentwicklung, die aber nur auf künftige Anwartschaftszuwächse wirkt.

 

Meist führt die Inflation für Anwärter zu einer Entwertung ihrer erdienten Ansprüche“, fasst Lucius die bAV-Lage der jungen Generationen zusammen. Folge: In Zeiten hoher Inflation werden die jungen Generationen von drei Seiten in die Zange genommen: Erstens werden die erdienten Anwartschaften und Ansprüche real entwertet. Zweitens nimmt der Druck zu, bestehende Entgeltumwandlungen einzustellen, um die Strom- und Gaspreisrechnung noch bezahlen zu können. Drittens müssen bei unvollständigem Inflationsausgleich auf das Gehalt Kaufkraftverluste hingenommen werden, die die Fähigkeit zur ergänzenden Altersvorsorge zusätzlich schmälern.

 

 

 

 

Die aktuellen Betriebsrentner besitzen meist ein gutes Versorgungsniveau, das für die heutige Generation in der Breite faktisch unerreichbar sein wird.“

 

 

 

 

Susanna Adelhardt, Evonik Industries.

Das Thema ist nicht neu: Bereits im Frühjahr hatten die Aktuare auf der DAV-Jahrestagung den Finger in die Wunde gelegt. Die oft sehr guten alten bAV-Zusagen beließen nur noch niedrigen Chancen für gute bAV bei neuen Mitarbeitern, da es kaum noch genug Gesamtbudget gibt, sagte seinerzeit IVS-Vorstandsmitglied Susanna Adelhardt. „An alten Zusagen kann fast nichts zugunsten der Jungen abgezweigt werden, da arbeitsrechtliche Zusagen für gesamte Dauer vorgegeben sind und eine Anpassung nach unten kaum möglich ist“, so Adelhardt, im Hauptberuf Global Head of Benefits beim Spezialchemiehersteller Evonik Industries. Damit sei die Generationengerechtigkeit in bAV derzeit nicht gewährleistet, zumal der Dotierungsrahmen der Firmen für bAV insgesamt begrenzt ist und die aktuellen Krisen nicht gerade höchste Priorität für die bAV einräumen.

 

IVS für Nachhaltigkeitsmechanismus

 

Damit verstetigt sich der Trend, dass „die aktuellen Betriebsrentner meist ein gutes Versorgungsniveau besitzen, das für die heutige Generation in der Breite faktisch unerreichbar sein wird“, warnt Stefan Oecking, stellvertretender IVS-Vorsitzender. Hinzu komme, dass die heutige Betriebsrentnergeneration durch das Betriebsrentenrecht in jeder Hinsicht ausgezeichnet gegen Eingriffe von außen abgesichert ist. Das will das IVS ändern und setzt sich für einen Nachhaltigkeitsmechanismus in der bAV ein – in Anlehnung an die Nachhaltigkeitsformel der gesetzlichen Rente. Durch einen solchen Mechanismus sollen die begrenzten Mittel in der bAV im Sinne eines Generationenausgleichs gerechter verteilt werden.

 

Stefan Oecking, IVS und Mercer.

Denkbar wäre die Ergänzung der gesetzlichen Anpassungsverpflichtung um eine Option für den Arbeitgeber zur Begrenzung der Anpassungshöhe, etwa durch die Einführung einer Anpassungsbemessungsgrenze für laufende Renten“ so Oecking, im Hauptberuf Partner bei Mercer und Vorstandschef des Mercer Pensionsfonds. Betriebsrenten würden dann nur noch bis zu einem bestimmten Betrag an den VPI angepasst, z.B. 1/6 der monatlichen Bezugsgröße (nach SGB IV).


De facto würde
n damit nach aktuellen Größenordnungen nur noch rund 550 Euro voll entsprechend VPIbzw. Nettolohnentwicklung angepasst. Beträge über der ABG sollten nur noch reduziert angepasst werden, z.B. zu 50% der aktuellen Regelung bzw. nur mit 1,0% fix, schlägt das IVS vor.


Arbeitgeber müssten sich im Gegenzug verpflichten, die eingesparten Mittel zur Finanzierung zusätzlicher bAV für die jüngere Generation einzusetzen, so die Idee. Damit dies nicht zu kompliziert wird, könnte die Prozedur durch kollektivrechtliche Regelungen per Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag geregelt werden, meint das IVS.

 

 

 

 

 

Die Finanzierung geschützter Besitzstände zu Lasten junger Anwärter gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt…“

 

 

 

Zur Einordnung: Bislang bekommen weniger als 20% der Anspruchsberechtigten eine Betriebsrente oberhalb von 550 Euro, schätzt Oecking. Durchschnittsverdiener bekämen im Schnitt weniger als 500 Euro Betriebsrente. Darüber könne auch die gewaltige Zahl von 500 bis 600 Mrd. Euro an Gesamtverpflichtungen der deutschen Wirtschaft für die bAV nicht hinwegtäuschen.

 

 

Praktische Modellfälle stehen aus

 

Wie der Nachhaltigkeitsmechanismus praktisch aussehen könnte, haben die Aktuare noch nicht durchgerechnet (ganz abgesehen von der Frage, was Erfurt und Karlsruhe dazu zu sagen hätten). „Es gibt noch keinen Modellfall, wie sich das auf junge Anwärter bei späterer Rente auswirken und wie in demselben Zusammenhang die Rente der aktuellen Rentner weniger stark steigen würde“, sagt Lucius auf Nachfrage von LbAV. So wie bisher könne es aber nicht weitergehen. „Viele Bestände sind rentnerlastig, und neue Mitarbeiter werden allenfalls auf die Entgeltumwandlung verwiesen“, berichtet der Heubeck-Chef aus der Praxis.

 

 

 

 

„… und wird damit zum sozialpolitischen Problem.“

 

 

 

 

 

Angesichts des fehlenden Inflationsschutzes und der steigenden Aufwendungen für den Alltag gehe das Interesse an Entgeltumwandlungen zurück, was die spätere Versorgungslücke vergrößert.

 

Straßenszene im West-Berlin von 1979 – Überthema Generationengerechtigkeit. Die beiden Herren rechts im Bild gehören zu der Kohorte, die sich über inflationsgeschütze Betriebsrenten freuen kann. Das Paar links dürfte dagegen von der Thematik gar nicht mehr betroffen sein. Foto: Hans Scherhaufer. Bild zur Volldarstellung anklicken.

Das rückläufige Interesse an Entgeltumwandlungen bestätigt auch Adelhardt für Evonik Industries. „Die Finanzierung geschützter Besitzstände zu Lasten junger Anwärter gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und wird damit zum sozialpolitischen Problem“, warnt das IVS.

 

Zeit puffert


Die Aktuare machen zum wiederholten Male auf eine weitere Regulierungsbaustelle aufmerksam. Die derzeitige aufsichtsrechtliche Regulatorik verlangt, dass Pensionskassen ihre Verpflichtungen jederzeit vollständig mit Vermögen bedecken. „Diese Vorgabe verkennt den Faktor Zeit als Risikopuffer und zwingt Pensionskassen, die nicht über entsprechende Risikopuffer verfügen, in eine weniger volatile und damit renditearme Kapitalanlage“, erläutert Lucius.

 

Jedoch: Aktuare könnten mit mathematischen Methoden nachweisen, dass dies im Hinblick auf das Hauptziel der Pensionskassen (dauerhafte Erfüllbarkeit der eingegangen Leistungsverpflichtungen) kontraproduktiv sei. Vor diesem Hintergrund fordert das IVS nach wie vor eine Lockerung der gesetzlichen Bedeckungsvorschriften.

 

Bislang hatte die BaFin dies stets mit Verweis auf die ausreichend geeignete Anlageverordnung abgelehnt. Details an neuen Vorschlägen nannte das IVS bewusst noch nicht, da man sich zunächst in den Fachdialog zur bAV einbringen wolle, zu dem BMAS und BMF in Kürze einladen werden.

 

Nur so viel sei verraten: Die jederzeitige Bedeckung der gesamten Verpflichtung mit Vermögen sei nicht nötig.Ohne eine Pflicht hierzu ließe sich die Kapitalanlage auf der Grundlage von Aktiv-Passiv-Analysen so steuern, dass dem Faktor Zeit als Risikopuffer umfassend Rechnung getragen würde und Pensionskassen die Chancen des Kapitalmarkts besser nutzen könnten. Dies hatte das IVS bereits auf der DAV/DGVM-Jahrestagung 2022 thematisiert.

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