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Auf dem Weg zum Chemie-Sozialpartnermodell (I):

Schmerzgrenzen und keine Angst

Mit den beiden in der deutschen chemischen Industrie für die bAV Verantwortlichen spricht über das kommende Sozialpartnermodell für LEITERbAV Michael Müller – und erfährt von kreativen Lösungen, immer noch ungeklärten Rechtsfragen und gemeinsamer Verantwortung. Teil I eines zweiteiligen Interviews. Heute: Warum das ganze überhaupt.

 

Während manche Akteure vor allem über Probleme und Hindernisse sprechen, sind besonders IGBCE und BAVC optimistisch, bis zum Jahresende das erste branchenweite Sozialpartnermodell an den Start zu bringen. Was läuft in der Chemie anders als in anderen Branchen? Darüber spricht LEITERbAV mit Michael Mostert, Fachsekretär Tarifrecht/-Gestaltung bei der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) in Hannover, und Lutz Mühl, Geschäftsführer Wirtschaft und Sozialpolitik beim Bundesarbeitgeberverband Chemie e. V. (BAVC) in Wiesbaden.

 

Lutz Mühl, Michael Mostert, jüngst nannte Marco Arteaga, einer der Entwickler des Sozialpartnermodells, es eine „Grundsatzfrage“, ob sich Sozialpartner im Bereich der Altersversorgung überhaupt betätigen sollten. Sie haben diese Frage klar und eindeutig mit „ja“ beantwortet. Aus welchen Gründen?

 

Lutz Muehl, BAVC.

Mühl: Die bAV hat in unserer Branche eine Tradition, die in vielen Betrieben bis in das vorletzte Jahrhundert zurückreicht. Gerade heute, in Zeiten sich verstärkenden Fachkräftemangels, zahlt eine solide Absicherung für das Alter unbestritten auf die insgesamt sehr attraktiven Arbeitsbedingungen in unserer Branche ein. Und dass die Absicherung aus der ersten Säule perspektivisch alleine kaum eine Versorgung auf einem wünschenswerten Niveau wird bieten können, ist auch keine neue Erkenntnis. Diesen Herausforderungen sollten wir uns als Sozialpartner nicht grundsätzlich verschließen.

 

Mostert: Unser Engagement beruht seit jeher auf gemeinsamer sozialpolitischer Verantwortung. Kurzer Rückblick: Bereits in den 1990er Jahren wurde deutlich, dass die gesetzliche Rente wegen der absehbaren demographischen Entwicklung in Zukunft vor immense Herausforderungen gestellt sein würde. In der Erkenntnis, dass ergänzende Eigenvorsorge immer wichtiger werde, haben die Chemie-Sozialpartner 1998 entschieden, zunächst die bisherigen VL für die tarifliche Altersvorsorge zu öffnen. Parallel wurde das erste Branchen-Versorgungswerk der Chemie als Direktversicherung mit einem Konsortium unter Führung der Allianz LV vereinbart. Ziel war, dass die Einzelnen unkompliziert zusätzlich für das Alter vorsorgen können, ohne sich finanziell zu überfordern, und gleichzeitig vielen Arbeitgebern eine Orientierung im schon damals unübersichtlichen Produktangebot zu bieten. Diese Zielsetzung gilt auch heute, wenn es um das Sozialpartnermodell geht.

 

 

 

 

 

 

In unserer Branche bestehen dieselben Interessenunterschiede wie in allen anderen.“

 

 

 

 

 

Damit eine Lösung zustande kommt, müssen sich die Tarifvertragsparteien auf einen gemeinsamen Nenner verständigen, obwohl sie häufig unterschiedliche Interessen verfolgen. Ihnen fällt das offenbar leichter als anderen. Warum?

 

Mühl: In unserer Branche bestehen dieselben Interessenunterschiede wie in allen anderen. Die Wege zu Kompromissen sind keineswegs einfach. Da sollte kein falscher Eindruck entstehen. Beide Seiten müssen oft an ihre Schmerzgrenzen gehen. Wenn wir trotzdem immer wieder gute Lösungen finden, dann deshalb, weil wir die gegenseitigen Herausforderungen verstehen und weil uns der gemeinsame Wille eint, die wichtigen Arbeitsbedingungen in unserer Branche soweit möglich selbst zu gestalten.

 

Mostert: Die tarifliche Altersvorsorge ist mehr ein Konsens- als ein Konfliktthema. Beide Sozialpartner sind sich grundsätzlich einig in dem Ziel, den Arbeitnehmern eine gute zusätzliche Altersversorgung zu ermöglichen. Dazu zählt neben den gemeinsamen tarifpolitischen Maßnahmen auch die Mitwirkung bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen. Und die Chemie-Sozialpartner verfolgen, nicht nur in der bAV, pragmatische Lösungen, die unkompliziert umgesetzt werden können. Die Motivationen mögen sich unterscheiden. Auf der Gewerkschaftsseite überwiegt das sozialpolitische Interesse. Auf der Arbeitgeberseite kommen vielfach zusätzliche Gesichtspunkte wie etwa das Interesse an der Beschäftigtenbindung hinzu. Auf die praktischen Ergebnisse wirken sich diese Unterschiede nicht aus.

 

Herr Mostert, Sie haben selbst eingeräumt, die „Abwesenheit von Garantien“ sei für die Arbeitnehmerseite „nicht ganz leicht einzusehen“. Was hat Sie am Ende trotzdem von der Zielrente überzeugt?

 

Michael Mostert, IG BCE.

Mostert: Zum einen ermöglicht die reine Beitragszusage einen Ausweg aus der Niedrigzinsfalle. Bekanntlich werden bisherige bAV-Modelle entweder – wie die BZML – gar nicht mehr oder – bei der BOLZ – nur noch zu deutlich veränderten Bedingungen angeboten, insb. mit abgesenkten Garantien. Im Gegenzug ist bei manchen Vorsorgekonzepten die Aktienquote in der Kapitalanlage gestiegen. Ob dies für die Versorgungsanwärter im Vergleich zur „alten Welt“ bei wertender Gesamtbetrachtung einen messbaren Vorteil bringt, wird sich aber erst im weiteren Zeitablauf zeigen.

Demgegenüber bietet die rBZ den Beschäftigten trotz des Garantieverbotes mehrere Vorteile: Neben liberalerer Kapitalanlage ermöglicht sie gerade durch das Garantieverbot v.a. die Verwendung praxisnäherer Berechnungsgrundlagen in der Leistungsphase.

Im Klartext: Durch marktnäheren Zins im Vergleich zum gegenwärtigen HRZ von 0,25% und durch realistischere Annahmen zur Lebenserwartung können deutlich erhöhte Startrenten gestaltet werden – nach Expertenmeinung um bis zu ca. 45%. Angesichts des Verfalls der Leistungserwartung in der klassischen bAV – seit 2002 haben sich bei gleicher Beitragsleistung und gleichen biometrischen Daten selbst die Garantieleistungen vielfach annähernd auf ein Viertel verringert – wäre es nach meiner festen Überzeugung verfehlt, den Beschäftigten die Möglichkeiten der neuen rBZ vorzuenthalten. Damit würden wir unserer sozialpolitischen Verantwortung nicht gerecht.

 

 

 

 

Aus Angst vor der Verantwortung in Untätigkeit verharren oder wesentliche Entscheidungen an den Gesetzgeber delegieren?“

 

 

 

 

 

Das BRSG fordert von den Tarifpartnern eine „Beteiligung an der Durchführung und Steuerung der bAV in Form der reinen Beitragszusage“, ohne das „Wie“ konkret zu definieren. Das verunsichert manche Sozialpartner, sie fürchten, Fehler zu machen, für die sie später haften müssen. Wie interpretieren Sie die Beteiligungspflicht und was tun Sie, um diese rechtssicher zu erfüllen?

 

Mühl: Wir haben, natürlich unter anderen rechtlichen Rahmenbedingungen, über zwei Jahrzehnte Erfahrung mit der Beteiligung an Durchführung und Steuerung von Branchenversorgungswerken. Das ist für BAVC und IGBCE kein Neuland. Natürlich haben wir jetzt für das Sozialpartnermodell eine engmaschigere Begleitung vorgesehen und uns wo immer es möglich und sinnvoll ist, auch ein explizites (Mit-)Entscheidungsrecht vorbehalten.

Das Fehlen einer allzu detaillierten Regelung des „Wie“ im Gesetz hat aber doch auch Vorteile. So können wir die Lösungen gestalten, die für unsere Vorstellungen und die jeweilige Versorgungseinrichtung am besten passen. Und aus Angst vor der Verantwortung in Untätigkeit verharren oder wesentliche Entscheidungen an den Gesetzgeber delegieren? Das fände ich falsch.


Mostert:
Richtig ist, dass die Beteiligungsobliegenheit der Tarifvertragsparteien weder im Text des BetrAVG noch in den Gesetzesmaterialien quantitativ und qualitativ klar beschrieben wird. Festzuhalten ist aber, dass die Tarifvertragsparteien eben nur eine Beteiligung an der Durchführung und Steuerung schulden, nicht aber der beteiligten Versorgungseinrichtung rechtlich übergeordnet sind und insb. kein Alleinentscheidungsrecht haben.

Es genügt also, dass die Tarifvertragsparteien bei wichtigen Weichenstellungen eine Einflussmöglichkeit haben, die über bloße Beratung und Stellungnahme hinausgeht. Im SPM Chemie erfolgt die Beteiligung der Sozialpartner in einem paritätisch besetzten Gremium.

Vor diesem Hintergrund halten wir das rechtliche Haftungsrisiko für sehr begrenzt. Daneben gibt es zweifellos auch das eher „politische“ Reputationsrisiko, dass ein einmal etabliertes SPM bei der Verbreitung innerhalb der Branche oder bei den Leistungen hinter den Erwartungen zurückbleiben könnte. Auch hier sind wir zuversichtlich, dieses Risiko vermeiden zu können. Wären wir nicht davon überzeugt, dass das gemeinsame Sozialpartnermodell ein Erfolg wird, hätten wir uns nicht dafür entschieden.

 

 

Teil II des zweiteiligen Interviews findet sich zwischenzeitlich auf LEITERbAV hier.

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