Das Forum für das institutionelle deutsche Pensionswesen

Übersterblichkeit und Covid-19 (II):

Resümee der zweiten Welle

Die Corona-Pandemie ist auch nach über einem Jahr alles andere als ausgestanden. Doch welche Schlussfolgerungen kann man aus der Mortalität der vergangenen zwölf Monate ziehen? Thomas Hagemann und Christian Viebrock analysieren für LEITERbAV erneut die amtlichen Zahlen.

 

 

Vor gut einem halben Jahr haben wir an dieser Stelle die Übersterblichkeit der ersten Covid-19-Welle analysiert.

 

Die zweite Welle hat sich als wesentlich stärker und langwieriger herausgestellt. Mittlerweile ist die zweite in die dritte Welle übergegangen. Daher ist es an der Zeit, sich erneut die Übersterblichkeit anzusehen.

 

Die Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Übersterblichkeit

 

Thomas Hagemann, Mercer.

Bei der Frage der Über- und Untersterblichkeit geht es darum, ob es in einer bestimmten Gruppe oder in einem bestimmten Zeitraum mehr oder weniger Sterbefälle als in einer Vergleichsgruppe oder einem Vergleichszeitraum gegeben hat. In der Vergangenheit hat man insbesondere die Übersterblichkeit während einer Grippewelle analysiert, um die Zahl der damit zusammenhängenden Todesfälle abzuschätzen.

 

Die Betonung liegt dabei auf „abzuschätzen“, denn es gibt keine exakte erwartete Sterblichkeit. Vergleichen wir die Zahl der Todesfälle während der zweiten Covid-19-Welle mit der entsprechenden Zahl der Vorjahre, müssen wir beispielsweise folgende Aspekte beachten:

 

  • Die Zahlen schwanken von Jahr zu Jahr: In den Jahren 2017 und 2018 gab es jeweils starke Grippewellen, die die Gesamtzahl der Todesfälle nach oben getrieben hat.

  • Die Zahlen schwanken im Jahresverlauf: Im Winter sterben mehr Menschen als im Sommer.

  • Die Zahlen können auch sehr kurzfristig schwanken: Bei Hitzewellen im Sommer steigen die Sterbezahlen kurzfristig an.

  • Die Altersstruktur der Bevölkerung ändert sich: Da die einzelnen Geburtsjahrgänge unterschiedlich stark verteilt sind, nimmt in den letzten Jahren die Zahl der älteren Menschen in Deutschland zu. Das führt tendenziell zu einer Erhöhung der Gesamtzahl der Todesfälle.

  • Die Lebenserwartung erhöht sich: Seit vielen Jahren nimmt die Sterblichkeit in allen Altersgruppen kontinuierlich ab.

 

Christian Viebrock, Mercer.

Auf diese Aspekte sind wir in unserem ersten Aufsatz bereits näher eingegangen. Sie erschweren die Untersuchungen der Übersterblichkeit. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Untersuchungen zu Übersterblichkeit, die teilweise sehr differenziert vorgehen (beispielsweise die veränderte Altersstruktur der Bevölkerung einbeziehen), ohne dass das Grundproblem der Daten (beispielsweise die Grippewellen in den Jahren 2017 und 2018) ausreichend berücksichtigt wird. Damit wird eine Genauigkeit suggeriert, die gar nicht zu erreichen ist.

 

Umgekehrt gibt es Artikel im Netz, die einfach nur die Gesamtzahl der Todesfälle eines Jahres betrachten und damit darlegen wollen, dass es 2020 eine Untersterblichkeit gab. Daraus zu folgern, die Zahl der Covid-19-Sterbefälle sei vom Robert-Koch-Institut übertrieben dargestellt, verbietet sich allerdings. Die Veränderung der Zahl der Todesfälle von einem Jahr zum nächsten ist immer das Ergebnis ganz verschiedener Effekte. Sterben in einem Jahr weniger Menschen an Verkehrsunfällen, aber in gleichem Maße mehr durch Gewaltverbrechen, bleibt die Sterblichkeit unverändert, ohne dass jemand daraus folgern würde, dass die Zunahme bei den Gewaltverbrechen dann ja kein Problem sei.

 

Und warum betrachten wir die Übersterblichkeit überhaupt?

 

Bei der Prüfung der Übersterblichkeit geht es letztlich um die Frage: Können wir alle Zahlen erklären?

 

Für Aktuarinnen und Aktuare ist es das tägliche Brot: Nach Auswertung aller Daten im Detail und versicherungsmathematischen Bewertungen auf Einzelebene steht am Ende eine Zahl. Bevor ein Gutachten unterschrieben wird, ist zu klären, ob die Zahlen plausibel sind, also ob die Veränderung der Zahl im Vergleich zum Vorjahr aus den Änderungen von Daten, Annahmen und Berechnungsmethoden vollständig erklärt werden kann. Bleibt eine Lücke, muss die Ursache gefunden werden.

 

Genau dabei hilft uns auch die Übersterblichkeit in der Covid-19-Pandemie. Wir kennen die Zahl der Covid-19-Toten aus den Datenmeldungen an das Robert-Koch-Institut. Analysieren wir zusätzlich die Übersterblichkeit, haben wir die Möglichkeit, diese Zahlen auf Plausibilität zu überprüfen.

 

Insbesondere ist es denkbar, dass die Todesursachen nicht korrekt zugeordnet sind. Tatsächlich sind Todesursachen in der Statistik eine sehr unsichere Größe, wie Susanne Donner in einem Artikel auf Riffreporter eindrucksvoll darlegt.

 

 

Wir können prüfen, ob es unerklärbare Effekte gibt, aber wir können nichts damit beweisen.“

 

 

Daher wäre es insbesondere zu Beginn der Pandemie nicht unwahrscheinlich gewesen, dass Covid-19-Todesfälle nicht als solche erkannt worden wären. In diesem Fall wäre ggf. eine nicht erklärbare Übersterblichkeit während der ersten Welle erkennbar gewesen. Das war allerdings nicht der Fall.

 

In der zweiten Welle wäre es möglich gewesen, dass durch die deutlich höhere Zahl von Tests und die deutlich höhere Verbreitung von Covid-19 Personen, die eigentlich aufgrund einer anderen Ursache verstorben sind, versehentlich Covid-19 zugeordnet worden wären.

 

Nicht mehr und nicht weniger können wir mit der Übersterblichkeit anfangen. Wir können prüfen, ob es unerklärbare Effekte gibt, aber wir können nichts damit beweisen.

 

 

Wie sind wir vorgegangen?

 

Bei der Prüfung der Übersterblichkeit haben wir uns an der Vorgehensweise des Statistischen Bundesamtes orientiert. Das Amt veröffentlicht derzeit wöchentlich Sterbefallzahlen und vergleicht sie zum einen mit den durchschnittlichen Werten der vergangenen vier Jahre und zum anderen mit den Covid-19-Sterbefällen entsprechend den Zahlen des RKI.

 

Da nicht alle Daten tagesgenau vorliegen, betrachten wir ebenfalls Kalenderwochen. Wir betrachten ausschließlich die zweite Covid-19-Welle und beginnen Anfang September 2020 (36. Kalenderwoche 2020). Das Ende des Betrachtungszeitraums haben wir auf Mitte März 2021 (11. Kalenderwoche 2021) festgesetzt (oder früher, falls noch nicht alle Daten vorlagen).

 

Schaltjahre und die unterschiedliche Lage der Kalenderwochen in den einzelnen Jahren führen zwangsläufig zu gewissen Verschiebungen. In diesem Punkt gehen wir etwas anders vor als das Statistische Bundesamt. Wir vergleichen die 53. Kalenderwoche des Jahres 2020 jeweils mit der ersten Kalenderwoche der vier Vorjahre 2017 bis 2020. Das führt zu Verschiebungen in den Folgewochen. So vergleichen wir die zweite Kalenderwoche 2021 mit der jeweils ersten der Jahre 2017 bis 2020.

 

Das Statistische Bundesamt gibt für die 53. Kalenderwoche 2020 keine Vergleichszahlen an und nimmt somit eine Lücke in Kauf, die wir vermeiden wollen – insbesondere auch deshalb, weil es gerade zwischen Weihnachten und Neujahr zusätzliche Verzögerungen bei den Meldungen der Gesundheitsämter an das RKI gab und somit Todesfallmeldungen zwischen den Wochen verschoben wurden.

 

In den folgenden Grafiken zeigt die dunkelblaue Linie den Durchschnitt der Sterbefälle pro 100.000 Einwohner in den vorangehenden vier Jahren. Hellblau markiert ist der Korridor zwischen der jeweils maximalen und minimalen Zahl an Sterbefällen der Vorjahre.

 

Die rote durchgezogene Linie zeigt die Sterblichkeit in der zweiten Covid-19-Welle, die rote gestrichelte Linie den gleichen Wert nach Abzug der bekannten Covid-19-Todesfälle, die wiederum als rot gepunktete Linie dargestellt sind. Vergleicht man also die rote durchgezogene Linie mit dem hellblauen Korridor, erkennt man die Über- oder Untersterblichkeit. Liegt die rote gestrichelte Linie innerhalb des Korridors, so lässt sich die Übersterblichkeit vollständig durch die Zahl der bekannten Covid-19-Todesfälle erklären.

 

Wie in unserem ersten Aufsatz haben wir die Zahlen für ganz Deutschland betrachtet. Um zu überprüfen, inwieweit sich dadurch bereits eine gewisse Verwässerung der Daten zwischen stark und weniger stark betroffenen Gebieten ergibt, haben wir beispielhaft zwei unterschiedlich stark betroffene Bundesländer separat betrachtet, nämlich Sachsen und Schleswig-Holstein. Daneben haben wir ältere und mittelalte Personenkreise getrennt dargestellt. Und schließlich werfen wir noch einen Blick auf Österreich und die Schweiz.

 

Nicht berücksichtigt haben wir die Veränderung der Altersstruktur im Betrachtungszeitraum und den Trend zur Verlängerung der Lebenserwartung. Es liegen nicht genügend Daten vor, um diese Aspekte bei allen Einzelauswertungen berücksichtigen zu können. Die Veränderung der Altersstruktur führt dazu, dass für ganz Deutschland mehr Tote als in den Vorjahren zu erwarten sind. Die Verlängerung der Lebenserwartung führt dazu, dass weniger Tote zu erwarten sind. Dabei hat die Veränderung der Altersstruktur die stärkeren Auswirkungen. Beide Effekte zusammen hätten nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes für ganz Deutschland schon ohne die Pandemie ein bis zwei Prozent mehr Todesfälle erwarten lassen. Die Übersterblichkeit in den folgenden Grafiken dürfte daher leicht überschätzt sein. An der grundsätzlichen Aussage ändert das jedoch nichts.

 

Die zweite Welle in Deutschland

 

Ab der 43. Kalenderwoche 2020 gab es in Deutschland eine steigende Übersterblichkeit, die Ihren Höhepunkt im Dezember erreicht hat, als die Zahl der Sterbefälle zum Teil über 30% höher war als der Durchschnitt in den Vorjahren.

Quelle: Mercer. Grafik zur Volldarstellung anklicken.

 

Diese beobachtete Übersterblichkeit lässt sich zu einem großen Teil durch die offiziellen Covid-19-Sterbefälle erklären. Seit Anfang Januar geht die Übersterblichkeit in Deutschland deutlich zurück. Ab Ende Februar ist zum Teil sogar eine Untersterblichkeit zu beobachten.

 

Lässt man die Covid-19-Sterbefälle außer Acht, liegt seit Jahresbeginn sogar durchgängig eine Untersterblichkeit vor (gestrichelte rote Linie). Das lässt sich mit der ausbleibenden Grippewelle erklären, die zu dieser Jahreszeit üblicherweise viele Sterbefälle verursacht.

 

Allerdings ist auch zu beachten: Nach Abzug der Covid-19-Sterbefälle liegt bis Weihnachten eine Übersterblichkeit und nach dem Jahreswechsel eine Untersterblichkeit vor. Dieses Zusammentreffen ist ein Hinweis auf Meldeverzögerungen. Der Höhepunkt der Sterblichkeit insgesamt liegt etwa zwei Wochen vor dem Gipfel der Covid-19-Todesfälle. Dieser Effekt ist auch in den folgenden Grafiken sichtbar.

 

Es sei jedoch noch darauf hingewiesen, dass die Werte von 2021 zum Teil auf vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes beruhen und sich durch Nachmeldungen von Sterbefällen noch ändern können (gilt gleichermaßen auch für die folgenden Grafiken).

 

Die zweite Welle in Schleswig-Holstein

 

Die Grafik zeigt eindrücklich, dass Schleswig-Holstein in Bezug auf die Zahl der Sterbefälle insgesamt relativ gut durch die zweite Welle der Coronapandemie gekommen ist.

Quelle: Mercer. Grafik zur Volldarstellung anklicken.

 

Lediglich im Dezember 2020 und Januar 2021 zeigt sich eine leichte Übersterblichkeit, die in der Spitze bei 18% (3. Kalenderwoche 2021) lag. Diese Übersterblichkeit entspricht im Wesentlichen der Zahl der Covid-19-Sterbefälle.

 

Die zweite Welle in Sachsen

 

Ganz anders stellt sich der Verlauf in Sachsen dar. Hier lag die Zahl der Sterbefälle zum Jahresende 2020 zum Teil doppelt so hoch wie üblich zu dieser Jahreszeit. Wie in Deutschland insgesamt geht auch hier die Übersterblichkeit seit Jahresbeginn 2021 wieder deutlich zurück.

Quelle: Mercer. Grafik zur Volldarstellung anklicken.

 

Auffällig ist allerdings, dass sich die Übersterblichkeit – insbesondere im Dezember 2020 – nur zum Teil durch die dem RKI gemeldeten Todesfälle erklären lässt. Auch die oben erwähnte Meldeverzögerung reicht als Erklärung nicht aus. Es könnte also sein, dass es in Sachsen weitere Covid-19-Sterbefälle gab, die nicht als solche erkannt wurden.

 

Die zweite Welle für die ältere Generation

 

Ein ähnliches Bild wie für Deutschland insgesamt – nur auf höherem Niveau – zeigt sich, wenn man nur die Sterbefälle der 80 bis 89-Jährigen in Deutschland betrachtet.

Quelle: Mercer. Grafik zur Volldarstellung anklicken.

 

In der 52. Kalenderwoche wurden in dieser Gruppe ca. 50% mehr Sterbefälle gezählt als im Schnitt der Jahre 2016 bis 2019. Auch für diesen Personenkreis sind die Sterbefälle inzwischen rückläufig, was auch im Zusammenhang mit den zwischenzeitlich erfolgten Impfungen stehen könnte.

 

Die zweite Welle für die mittelalte Generation

 

Betrachtet man dagegen die Sterblichkeit für die 60 bis 69-Jährigen, so lässt sich auch hier eine Übersterblichkeit erkennen, allerdings auf deutlich niedrigerem Niveau als bei der älteren Generation.

Quelle: Mercer. Grafik zur Volldarstellung anklicken.

 

In der Spitze lag die Übersterblichkeit in der 53. Kalenderwoche bei ca. 20%.

 

Die zweite Welle in Österreich

 

Auch in unserem Nachbarland Österreich hat sich die zweite Welle der Coronapandemie zum Jahresende 2020 signifikant auf die Sterblichkeit ausgewirkt.

Quelle: Mercer. Grafik zur Volldarstellung anklicken.

 

Von der 46. bis zur 51. Kalenderwoche 2020 gab es dort ungefähr 50% mehr Sterbefälle als üblich und damit auch relativ gesehen deutlich mehr Sterbefälle als in Deutschland. Auch hier lässt sich die Übersterblichkeit im Wesentlichen durch die offiziellen Covid-19-Sterbefälle erklären. Seit dem Jahreswechsel ist der Effekt der Übersterblichkeit wieder rückläufig.

 

Die zweite Welle in der Schweiz

 

Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Schweiz, wobei sich die Spitze der Übersterblichkeit in Höhe von ca. 60% über einen etwas längeren Zeitraum (November und Dezember 2020) erstreckt als in Deutschland und Österreich.

Quelle: Mercer. Grafik zur Volldarstellung anklicken.

 

Kurze Würdigung anderer Veröffentlichungen

 

Der Begriff der Übersterblichkeit ist in den sozialen Medien umkämpft. Seit Monaten versuchen beispielsweise Covid-19-Leugner mit Hilfe von Statistiken nachzuweisen, dass wir eine Untersterblichkeit in Deutschland haben, die Pandemie also gar nicht existiere. Andere sehen in den Zahlen zur Übersterblichkeit den Beweis, dass das Gegenteil der Fall sei.

 

Der Pressesprecher des Statistischen Bundesamtes, Florian Burg, hat daher in einer Reihe von Tweets zum Jahresende darauf hingewiesen, dass man mit Statistik auch irreführen kann und dass Kontextinformationen und die Methodik bei der Interpretation von Statistiken eine hohe Bedeutung haben. Damals kursierten sogar Statistiken im Netz, in denen die Gesamtzahl der Todesfälle der Jahre 2016 bis 2019 mit der Zahl der Todesfälle der ersten elf Monate für 2020 verglichen wurde – wobei man annehmen muss, dass hier nicht fehlende Statistikkompetenz, sondern bewusste Irreführung die Ursache war. Auf solche Artikel möchten wir nicht näher eingehen.

 

Mittlerweile gibt es in der Presse gute, teilweise interaktive Übersichtsseiten zur Übersterblichkeit des Jahres 2020, beispielsweise in der WAZ.

 

Außerdem gibt es weitere Untersuchungen zur Übersterblichkeit. So hat beispielsweise das ifo-Institut eine eigene Analyse der Übersterblichkeit vorgenommen. Hierbei wurde anders als in unserer Betrachtung die Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung einbezogen, nicht aber die ohne Covid-19 zu erwartende Verringerung der Sterblichkeit. Altersbereinigt konstatiert die Studie eine fürs ganze Jahr fast nicht vorhandene Übersterblichkeit. Dabei werden aber die Zeiten zwischen den Wellen, in denen die Sterblichkeit erwartungsgemäß geringer war als in den Vorjahren, mit der höheren Sterblichkeit in der ersten und zweiten Welle verrechnet. Ähnlich geht auch die Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München vor, die allerdings nur Daten bis Anfang Dezember ausgewertet hat.

 

Unseres Erachtens verwässert die Betrachtung von ganz Deutschland für das ganze Jahr das Ergebnis, insbesondere, wenn die ohne Covid-19 zu erwartende Verringerung der Sterblichkeit nicht berücksichtigt wird. Daher haben wir uns entschieden, uns auf den Zeitraum der zweiten Welle zu beschränken und dabei beispielsweise auch zwei unterschiedlich stark betroffene Bundesländer separat zu betrachten.

 

Einfluss auf die Sterbetafeln

 

In unserem ersten Aufsatz sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es angesichts der geringen Sterbefallzahlen für eine Anpassung von Sterbetafeln in Deutschland keinen Grund gibt. Wir hatten auch auf eine Untersuchung für England und Wales hingewiesen, nach der die Sterblichkeit der überlebenden Bevölkerung geringer ausfallen würde als der Gesamtbevölkerung vor der Pandemie. Dieser Effekt wurde aber als relativ klein angesehen. Zudem beruht die Studie auf frühen Daten der Pandemie.

 

Wie sehen wir es heute?

 

Zum einen sind seit dem ersten Covid-19-Toten in Deutschland über 75.000 weitere Personen gestorben. Das macht etwa 7% der Gesamtzahl der Todesfälle im selben Zeitraum aus und ist daher nicht mehr zu vernachlässigen. Insbesondere hat es rückblickend die Sterblichkeit bei der älteren Bevölkerung deutlich erhöht.

 

Zum anderen stellt sich die Frage, wie die verschiedenen, teils gegenläufigen Entwicklungen zusammenwirken. Unterscheiden wir dazu – völlig unabhängig von Covid-19 – gedanklich einmal zwischen Personen mit einem geringeren Sterberisiko und solchen mit einem höheren Sterberisiko. Ursache für diese unterschiedlichen Risiken können beispielsweise im Gesundheitszustand, aber auch in einer riskanteren Lebensweise liegen. Dann stellt sich die Frage nach verschiedenen Korrelationen:

 

  • Gibt es eine Korrelation zwischen dem Sterberisiko und der Wahrscheinlichkeit, sich überhaupt mit Covid-19 anzustecken? Stecken sich möglicherweise Personen mit einem schlechteren Gesundheitszustand auch schneller an als gesunde Personen? Das hätte zur Folge, dass Personen, die nie infiziert wurden, im Durchschnitt ein unterdurchschnittliches Sterberisiko hätten.

  • Gibt es eine Korrelation zwischen dem allgemeinen Sterberisiko (vor Covid-19) und der speziellen Wahrscheinlichkeit, an einer Infektion zu sterben? Eine solche Korrelation wurde entsprechend der oben zitierten Veröffentlichung für England und Wales behauptet: Personen, die an Covid-19 sterben, seien demnach die Personen, die ohnehin ein erhöhtes Sterberisiko hatten.

  • Haben Personen, die eine Covid-19-Infektion überlebt haben, ein höheres, niedrigeres oder gleich hohes Sterberisiko wie vorher? Insbesondere im Hinblick auf Berichte über Personen, die noch Monate nach einer Infektion starke gesundheitliche Probleme haben, wäre es denkbar, dass das Sterberisiko durch eine Covid-19-Infektion langfristig steigt. Wir reden hier immerhin in Deutschland über eine Gruppe von fast 3 Mio. Menschen. Hinzu kommt die Dunkelziffer von Personen, die kaum Symptome hatten.

  • In welchem Ausmaß hat die Angst vor einer Infektion dazu geführt, dass medizinische Untersuchungen oder Behandlungen bezogen auf ganz andere Erkrankungen reduziert oder unterlassen wurden und sich daraus in den nächsten Jahren eine erhöhte Sterbewahrscheinlichkeit bestimmter Personengruppen ergibt?

  • In welchem Ausmaß haben die gesetzlichen Beschränkungen dazu geführt, dass sich die Lebenserwartung der Bevölkerung (oder eines Teils davon) verringert oder erhöht hat? Im Sommer letzten Jahres hat der in unserer Branche allseits bekannte Bernd Raffelhüschen behauptet, dass durch den Lockdown und der folgenden Rezession mehr Lebensjahre verloren gingen als gerettet werden. Die (berechtigte) Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Die Zahlen sind sicherlich als verwegene Schätzung einzuordnen. Dennoch ist zu erwarten, dass die persönlichen und wirtschaftlichen Einschränkungen auch Einfluss auf die Sterblichkeit haben.

 

Die Betrachtung verlorener Lebensjahre ist übrigens durchaus sinnvoll und liefert interessante zusätzliche Erkenntnisse. Christian J. Meier berichtet über entsprechende Berechnungen für das letzte Jahr, woraus hervorgeht, dass ein Drittel der durch Covid-19 verlorenen Lebensjahre auf Personen unter 70 Jahren entfällt.

 

Zurück zu unseren Sterbetafeln: Kürzlich konnten wir in den Nachrichten lesen, dass die Lebenserwartung in Schweden gesunken sei und deshalb Renten erhöht werden könnten. Dem liegt aber keine Analyse der oben beschriebenen Einflussgrößen zu Grunde. Vielmehr führt einfach die Beobachtung der erhöhten Zahl der Sterbefälle während der Coronapandemie dazu, dass die rechnerische Lebenserwartung auf Basis der Sterblichkeiten der letzten fünf Jahre gesunken ist. Es handelt sich also um eine rein rückblickende Betrachtung.

 

All die oben beschriebenen Zusammenhänge werden wir erst in einigen Jahren beobachten können. Insgesamt ist es somit derzeit schwer zu beurteilen, wie sich Covid-19 langfristig auf die Sterbetafeln auswirkt. Ohne weitere Erkenntnisse sehen wir derzeit keinen Anlass und insbesondere keine Möglichkeit, die Sterbewahrscheinlichkeiten für bilanzielle Bewertungen zu ändern. Die derzeit verwendeten Sterbetafeln, bei den meisten Unternehmen die unmodifizierten Heubeck-Richttafeln 2018 G, sind weiterhin als bestmögliche Schätzung (IFRS) oder vernünftige kaufmännische Bewertung (HGB) anzusehen.

 

Fazit

 

Die beobachtete Übersterblichkeit korrespondiert mit den gemeldeten Covid-19-Todesfällen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass eine nennenswerte Zahl von Covid-19-Todesfällen nicht als solche erkannt wurden oder eine nennenswerte Zahl von anderen Todesursachen fälschlicherweise Covid-19 zugeordnet wurde.

 

Über diese Kontrollrechnung hinaus sollte mit dem Begriff Übersterblichkeit vorsichtig umgegangen werden. Insbesondere verbietet es sich, geringere Sterblichkeiten zu einer Zeit oder an einem Ort mit höheren Sterblichkeiten zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort zu verrechnen, um die Pandemie kleinzureden. Hinter jedem Covid-19-Todesfall steckt ein Mensch, dessen Angehörigen es sicher nicht als tröstlich empfinden, dass im Lockdown jemand anderes glücklicherweise nicht an einem Verkehrsunfall gestorben ist und somit statistisch gesehen alles gar nicht so schlimm ist.

 

Thomas Hagemann ist Chefaktuar der Mercer Deutschland GmbH.

 

Christian Viebrock ist Aktuar (DAV, IVS) der Mercer Deutschland GmbH.

 

Von ihnen bzw. anderen Mercer-Autorinnen und Autoren sind zwischenzeitlich auf LEITERbAV erschienen:

 

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Von zweiten Währungen, Spagaten, einer Rückkehr und …
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Zum Sommeranfang Großkampftag in Erfurt (III):
Cut bei den zehn letzten Jahren?
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Framework für das De-Risking:
For those about to pay!
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aba-Forum Steuerrecht (V):
Trendwende beim HGB-Zins
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aba-Forum Steuerrecht (IV):
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aba-Forum Steuerrecht (II):
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aba-Forum Steuerrecht (I):
Eine neue Weltsteuerordnung und …
von Gregor Hellkamp, 24. Juli 2023

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Sind die aktuellen Sterbetafeln noch die bestmögliche Schätzung?
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DAV/DGVFM-Jahrestagung 2023 in Dresden (V):
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From nine to five till ninetyfive
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Ausfinanzierung von Pensionsverpflichtungen:
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IDW und DAV zu rückgedeckten Versorgungszusagen:
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Zusätzlicher Prüfungsaufwand für externe Versorgungsträger:
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Bilanzneutral, befristet, BOLZ:
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Forum „bAV“ der VVB:
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Von Fiduciary Management, Outscourced Chief Investment Officer und Delegated Solutions:
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Übersterblichkeit und Covid-19:
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von Jeffrey Dissmann und Michael Sauler, 27. Mai 2020

Aufsicht:
Konstruktiv durch die Krise

von Dr. Bernhard Holwegler und Thomas Hagemann, 16. April 2020

bAV in den Zeiten des Virus‘:
Kurze Arbeit und lange bAV

von Dr. Judith May, München, 30. März 2020

BaFin-Merkblatt:
Selbst nicht nachhaltig?

von Andreas Kopfmüller, 30. Januar 2020

Flexible Lösungen und digitale Tools sind gefragt
von Klaus Bednarz und Stephan Hebel, Frankfurt, 28. Oktober 2019

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Alles auf Reset beim Wertguthaben?
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Zulagenförderung ist besser als ihr Ruf! 
von Klaus Bednarz, Hamburg, 12. Dezember 2017

Zumutung und Kostenbelastung
von Bettina Nürk, Frankfurt; Mannheim, 5. Oktober 2017

Künftig alle zwei Jahre EIOPA-Stresstest“
von Bettina Nürk, Frankfurt; Mannheim, 4. Oktober 2017

Die EIOPA wächst mit ihren Aufgaben
von Thomas Hagemann, Frankfurt am Main, 10. August 2017

Nicht genug dazu gelernt
von Frank Zagermann, Wiesbaden, 29. Mai 2017

Spannung jenseits des BRSG
von Thomas Hagemann, Mannheim, 9. Mai 2017

bAV statt Resturlaub?
von Rita Reichenbach, Frankfurt am Main, 12. März 2014

Das hat dort nichts zu suchen!
von Thomas Hagemann, Frankfurt am Main, 25. Februar 2014

Das könnt Ihr doch nicht ernst meinen!
von Stefan Oecking, Dortmund, 17. Juli 2013

 

Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

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