Das Forum für das institutionelle deutsche Pensionswesen

Deutschland im Herbst – aba-Mathetagung (III):

Live and let Sterbetafel …

mit eigenen Sterbetafeln: Heute geht es weiter auf LEITERbAV mit der Berichterstattung zum derzeitigen Tagungs-Marathon im deutschen Pensionswesen; immer noch zu der diesjährigen aba-Mathetagung – infolge der Inhaltsdichte in mehreren Folgen. Heute Teil III: von Siemensscher Demographie bis zur Erfurter Störung der Geschäftsgrundlage berichten für LEITERbAV Caroline Braun und Günter Hainz.

 

 

Nach dem fachlichen Austausch von Dirk Jargstorff, Jürgen Rings und Henriette Meissner geht es auf LEITERbAV heute im Programm der aba-Mathetagung vom 24. September weiter – mit Demografie, Sterbetafeln und dem Dritten Senat:

 

Siemens und die unternehmenseigenen Sterbetafeln …

 

Silja Fichtner, Siemens.

Der Nachmittag der aba-Mathetagung am 24. September beginnt mit einem gemeinsamen Vortrag von Silja Fichtner, Siemens AG, und Christian Viebrock, Mercer. Fichtner und Viebrock stellen die Herleitung unternehmenseigener Sterbetafeln für die deutschen Gesellschaften des Siemenskonzerns vor.

 

Der Konzern, der bereits seit 2014 modifizierte Sterbetafeln auf Basis der Heubeck Richttafeln verwendet hat, verfügt mit einer sehr großen Anzahl von Versorgungsberechtigten in Deutschland, verteilt über alle relevanten Bestandsgruppen und Altersklassen, über die zur Erstellung eigener biometrischer Rechnungsgrundlagen notwendige große Datenbasis.

 

Die Vorteile der unternehmenseigenen Sterbetafeln liegen, so Fichtner, darin, dass dem Best-Estimate-Ansatz besser Rechnung getragen wird, denn in unternehmenseigenen Sterbetafeln sind keine für das Unternehmen unpassenden Sicherheitszuschläge enthalten. Zudem bestehen weitere Vorteile in der Unabhängigkeit von anderen Anbietern, insbesondere in der Vermeidung unvorhersehbarer Effekte durch die überraschende Einführung neuer Sterbetafeln.

 

Viebrock erläutert die Technik: Den Sterbetafeln liegen die Daten von zehn Bilanzstichtagen einschließlich der von Siemens gepflegten Abgangsgründe zugrunde. Zunächst wurden daraus für neun Basistafeln Rohwahrscheinlichkeiten berechnet. Es folgte eine Glättung über das Alter sowie der Sterbetafeln untereinander. Effekte aus Sonderereignissen – genannt werden als Beispiel Grippewellen – wurden verteilt. Aus den Siemens-eigenen Sterbewahrscheinlichkeiten wurde auch der kurzfristige Sterblichkeitstrend abgeleitet. Zur Bestimmung des langfristigen Trends wurde auf Daten des Statistischen Bundesamtes zurückgegriffen, zudem wurde der Abhängigkeit der Sterblichkeit vom Lebensstandard Rechnung getragen.

 

auch in der Steuerbilanz

 

Siemens wendet die Sterbetafeln nicht nur in der Handels- und der Konzernbilanz, sondern auch in der Steuerbilanz an. Dementsprechend wurden die Tafeln den in dem maßgeblichen BMF-Schreiben geforderten statistischen Tests unterworfen.

 

Das ganze Projekt erstreckte sich über einen Zeitraum von einem Jahr, erstmals wurden die Sterbetafeln zum 30. September 2019 angewandt. Die bilanziellen Auswirkungen aufgrund des Übergangs waren, so wieder Fichtner, eher gering, da bereits zuvor den Gegebenheiten bei Siemens entsprechend modifizierte Sterbetafeln verwendet wurden.

 

Der Future Service, das BAG und die Drei-Stufen-Theorie

 

Alexander Bauer, Heubeck.

Alexander Bauer greift mit seinem Vortrag ein Thema auf, welches viele Unternehmen zurzeit bewegt: Der Leiter des Rechtsberatungsbereichs der Heubeck AG fordert deutlich mehr Flexibilität in der bAV, um den Fehlentwicklungen durch die dauerhaften Niedrigzinsen entgegensteuern zu können. Ein überhöhter Vertrauensschutz bringt die bAV nicht voran und gefährdet zudem die Generationengerechtigkeit, argumentiert Bauer. Er fordert Gerichte und Arbeitgeber zu mutigen Entscheidungen auf:

 

Aufgrund der andauernden Niedrigzinsphase senken externe Versorgungseinrichtungen die Verrentungsfaktoren und damit die Leistungen aus dem Future Service ab. Der Arbeitgeber hat diese Minderungen auszugleichen. Möchte er dieser Mehrbelastung entgehen, gilt es zwei Ebenen zu unterscheiden:

 

Das rechtliche „Ablösungsvehikel“ zur Anpassung des Future Service einerseits sowie die Rechtsprechung zur Besitzstandswahrung (Drei-Stufen-Theorie) andererseits.

 

Bezüglich des Ablösungsvehikels gibt es aufgrund der jüngeren Rechtsprechung Erleichterungen im Hinblick auf individualrechtliche Zusagen mit kollektivem Bezug. Mit dem BAG-Urteil vom 11. Dezember 2018 (3 AZR 380/17) wird auch für die letzte dieser Zusagen, die vertragliche Einheitsregelung, die kollektivrechtliche Ablösung legitimiert.

 

Hemmnis ist jedoch die Rechtsprechung zur Drei-Stufen-Theorie, erläutert Bauer. Ein Eingriff in den Future Service stellt einen Eingriff in die dritte Stufe dar und erfordert daher sachlich-proportionale Gründe beim Arbeitgeber. Der Eingriff muss mithin willkürfrei und verhältnismäßig sein.

 

Als zulässige Gründe für einen Eingriff in die dritte Stufe nennt die Rechtsprechung bisher eine „wirtschaftlich ungünstige Entwicklung des Unternehmens“ sowie den Grund der „Fehlentwicklung der bAV“. Bei letzterem wird konkret auf Mehrbelastungen aufgrund von Änderungen im Steuer- oder Sozialversicherungsrecht abgestellt (vgl. BAG-Urteil vom 10. November 2015, 3 AZR 390/14). Die Mehrbelastung muss erheblich und zum Zeitpunkt der Schaffung des Versorgungswerkes unvorhersehbar gewesen sein. Nach dem Eingriff darf der Gesamtbarwert der betroffenen Leistungen nicht niedriger sein als bei Einführung des Systems.

 

Bauer regt an, dass auch andere rechtliche oder tatsächliche Umstände einer Fehlentwicklung als Eingriffsgründe anerkannt werden. Der massive und langfristige Zinsabsturz war nicht vorhersehbar und ein isoliertes Abstellen auf die bilanzielle Mehrbelastung als Kriterium für eine Fehlentwicklung ist nicht ausreichend. Als Fehlentwicklung sieht er insbesondere das geänderte Preis-Leistungs-Verhältnis (Stichwort: Äquivalenzstörung) bei beitragsorientierten Leistungszusagen (boLZ). Bauer stellt ein schützenswertes Vertrauen der Arbeitnehmer auf hohe Rechnungszinsen bei weit darunter liegenden Marktzinsen in Frage.

 

Bauer zitiert das BAG-Urteil vom 12. Mai 2020 (3 AZR 157/19), in dem nochmals betont wird, dass eine Pensionskassenzusage nur abgelöst werden kann, wenn sie auch als Direktzusage hätte abgelöst werden können. Das BAG hatte nicht zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen die derzeitige Niedrigzinsphase den Arbeitgeber zu Eingriffen in bestehende Versorgungsregelungen berechtigt; im gleichen Urteil wird zum Ende der Urteilsbegründung jedoch immerhin der Hinweis gegeben, dass sich der Arbeitgeber bei Eintritt des Versorgungsfalles dann ggf. auf eine Störung der Geschäftsgrundlage berufen kann.

 

Der Vortragende stellt die Frage in den Raum, warum im Rahmen einer boLZ die Anwartschaftszuwächse mit Blick auf das aus den Fugen geratene Preis-Leistungs-Verhältnis (als sachlich-proportionalem Eingriffsgrund) nicht bereits zum Zeitpunkt der Absenkung beim Versorgungsträger als auch beim Arbeitgeber auf das Niveau reduziert werden dürfen sollten, das sich bei unveränderter Beitragszahlung ergibt. Denn an den Tatbestand einer Störung der Geschäftsgrundlage werden sehr hohe Anforderungen gestellt, und die Anpassung der Versorgungszusage erst im Versorgungsfall kommt dann in einem sehr späten und auch für den Arbeitnehmer unpassenden Moment.

 

Für eine aus Entgeltumwandlung finanzierte Versorgungszusage, auf die der Arbeitnehmer ja einen Rechtsanspruch hat, der Arbeitgeber sich ihr mithin gar nicht entziehen kann, sieht Bauer keine Notwendigkeit, auf die 3-Stufen-Theorie abzustellen. Vielmehr erachtet er hier in dem zwingenden Gebot der Wertgleichheit den hinreichenden objektiven Rahmen für zulässige Änderungen.

 

Soweit bisher zu den weiteren Inhalten der diesjährigen aba-Mathetagung. An deren Ende der aba-Mathetagung folgte wie stets eine aktuelle Stunde, die wegen ihrer Inhaltsdichte einen eigenen Beitrag verdient hat. Dieser folgt in Kürze auf LEITERbAV.

 

Teil I der Berichterstattung findet sich auf LEITERbAV hier.

 

Teil II der Berichterstattung findet sich auf LEITERbAV hier.

 

Teil IV der Berichterstattung findet sich zwischenzeitlich auf LEITERbAV hier.

 

Anm. der Headline-Redaktion: das heutige namensgebende Kulturstück findet sich hier.

 

Caroline Braun, H2B.

 

Caroline Braun und Günter Hainz sind beide Aktuare und Geschäftsführer der H2B Aktuare GmbH in München.

 

Von ihnen bzw. anderen Autorinnen und Autoren der H2B sind zwischenzeitlich auf LEITERbAV erschienen:

 

 

 

 

Günter Hainz, H2B.

aba-Tagung Mathematische Sachverständige (II):
Alle für eine
von Korbinian Kolb, 23. Oktober 2022

aba-Tagung Mathematische Sachverständige (I):
Zwischen Hoffnungsschimmer und ...
von Korbinian Kolb, 23. Oktober 2022

Neulich in Berlin – aba-Jahrestagung 2023 (IV):
Zurück zur Sieben?
von Lisa Martin und Sven Scholz , 28. Juni 2023

Neulich in Berlin – aba-Jahrestagung 2023 (III):
Quo vadis, lebenslang?
von Lisa Martin und Sven Scholz , 13 Juni 2023

aba-Tagung Mathematische Sachverständige:
Kostenlose Vertragsprüfung von Amts wegen
von Caroline Braun und Dr. Günter Hainz, 24. Oktober 2022

Deutschland im Herbst – aba-Mathetagung (III):
Von DRÜ und doppelten Steuern, von Wiki UND IAS 19 ...
von Caroline Braun und Dr. Günter Hainz, 21. Oktober 2021

Deutschland im Herbst – aba-Mathetagung (II):
De-Risking mit und ohne EBIT-Power
von Caroline Braun und Dr. Günter Hainz, 19. Oktober 2021

Deutschland im Herbst – aba-Mathetagung (I):
Alte Welten, neue Welten, dritte Quartale
von Caroline Braun und Dr. Günter Hainz, 15. Oktober 2021

Versorgungsausgleich:
Karlsruhe konkretisiert Karlsruhe …
von Jan Hartloff, 14. Juni 2021

Deutschland im Herbst – aba-Mathetagung (IV):
Rückwirkende Disqualifikation?
von Caroline Braun und Dr. Günter Hainz, 26. Oktober 2020

Deutschland im Herbst – aba-Mathetagung (III):
Live and let die...
von Caroline Braun und Dr. Günter Hainz, 21. Oktober 2020

Deutschland im Herbst – aba-Mathetagung (II):
Aktuare pandemiefest
von Caroline Braun und Dr. Günter Hainz, 16. Oktober 2020

Deutschland im Herbst – aba-Mathetagung (I):
Von 79 Milliarden, Optimisten, Pessimisten …
von Caroline Braun und Dr. Günter Hainz, 15. Oktober 2020

Neulich in Erfurt:
Altersteilzeit kann Teilzeit sein
von Dr. Günter Hainz, 25. März 2020

aba-Pensionskassentagung in Bonn (II):
Auch rückwirkend Schluss mit Privilegien ...
von Caroline Braun und Günter Hainz, 10. Oktober 2019

aba-Pensionskassentagung in Bonn (I):
Ora live on Stage
von Caroline Braun und Dr. Günter Hainz, 2. Oktober 2019

81. aba-Jahrestagung in Bonn (III):
Wenn best practices Druck machen…
von Dr. Günter Hainz, 11. Juni 2019

81. aba-Jahrestagung in Bonn (II):
Kaum mehr zu bewerkstelligen“
von Sven Scholz, 28. Mai 2019

Die aba neulich in Königswinter (IV):
Von Einstandspflichten und Portfolios. Und ein Abschied.
von Caroline Braun, 22. Oktober 2018

Die aba neulich in Königswinter (III):
Von Vaus und Feldberg
von Caroline Braun, 15. Oktober 2018

Die aba neulich in Königswinter (II):
Wir brauchen ein bAV-PEPP“
von Caroline Braun, 2. Oktober 2018

Die aba in Königswinter (I):
Der Aktuar in der Funktion
von Caroline Braun, 27. September 2018

BGH zum Versorgungsausgleich:
Was wie zu teilen wäre...
von Jan Hartloff, 24. Mai 2018

BMF-Schreiben vom 30. November 2017:
Auf BFH folgt AIFM folgt BMF
von Dr. Günter Hainz, 7. Dezember 2017

aba-Tagung Fachvereinigung Pensionskassen:
Kein Strom aus der Steckdose
von Dr. Günter Hainz, 17. Oktober 2017

Neues BMF-Schreiben:
Zwischen praktikabel und kompliziert
von Dr. Günter Hainz, 28. September 2017

BGH zum Versorgungsausgleich:
Externe Teilung fondsgebundener Zusagen
von Dr. Günter Hainz, 7. September 2017

 

Anm. der Redaktion: Die Berichterstattung zu Veranstaltungen erfolgt auf LEITERbAV regelmäßig im Indikativ der Referentinnen und Referenten, nicht im Konjunktiv.

 

Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

LEITERbAV bemüht sich um diskriminierungsfreie Sprache (bspw. durch den grundsätzlichen Verzicht auf Anreden wie „Herr“ und „Frau“ auch in Interviews). Dies muss jedoch im Einklang stehen mit der pragmatischen Anforderung der Lesbarkeit als auch der Tradition der althergerbachten Sprache. Gegenwärtig zu beobachtende, oft auf Satzzeichen („Mitarbeiter:innen“) oder Partizipkonstrukionen („Mitarbeitende“) basierende Hilfskonstruktionen, die sämtlich nicht ausgereift erscheinen und dann meist auch nur teilweise durchgehalten werden („Arbeitgeber“), finden entsprechend auf LEITERbAV nicht statt. Grundsätzlich gilt, dass sich durch LEITERbAV alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen sollen und der generische Maskulin aus pragmatischen Gründen genutzt wird, aber als geschlechterübergreifend verstanden werden soll. Auch hier folgt LEITERbAV also seiner übergeordneten Maxime „Form follows Function“, unter der LEITERbAV sein Layout, aber bspw. auch seine Interpunktion oder seinen Schreibstil (insb. „Stakkato“) pflegt. Denn „Form follows Function“ heißt auf Deutsch: "hässlich, aber funktioniert".

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