Das Forum für das institutionelle deutsche Pensionswesen

23. Handelsblatt-Jahrestagung bAV (III):

It’s the Administration, Stupid

Die bAV muss sich im Umfeld von Hoch-Inflation, Regulierungswellen und Gesetzgebung behaupten. LbAV-Autor Detlef Pohl war auch am zweiten Tag der neulichen HB-bAV-Tagung in Berlin dabei – und hörte von knackigen Rentenanpassungen, vielen Rechtsbaustellen, zu frühen Evaluierungen und Baby-Boomern, die wirklich kommen: Mit leichterer Kost für die bAV ist nicht zu rechnen.

Wegen der Inhaltsdichte dokumentiert LEITERbAV Impressionen vom zweiten Tag der hybriden HB-Tagung, dem 16. November, erneut im typischen LbAV-Stakkato, der Redaktion und Leserschaft gleichermaßen schont (sämtliche Aussagen im Indikativ der Referenten).

Krönung: Inflationsfestigkeit als Faktor für Neuordnung von Versorgungssystemen

Rafael Krönung, Aon. Foto: Dietmar Gust, HB.

Auswirkungen für Arbeitgeber, EbAV und Berechtigte beleuchtet Rafael Krönung, CEO Aon Wealth, Deutschland:

+++ Inflationsrate in EU auf über 10%, höchster Stand seit 1951 +++ Inflationserwartungen für mittlere Duration typischer Pensionsverpflichtungen: 2,6-2,7% (Inflation-Swaps) +++ Inflation-Swaps in Verbindung mit EZB-Langfristziel (2,0%) abhängig von Duration: 2,2% bei 24,6 Jahren, 2,5% bei 12,2 Jahren (Stand 31. Oktober) +++ Folge für Unternehmen: höherer Liquiditätsabfluss durch Rentenanpassungen sowie bilanzielle Effekte bzw. Aufwandssteigerungen durch Änderungen bei Bewertungsparametern +++

 

 

 

Zum Stichtag 1. Juli war eine bAV-Rentenanpassung nach VPI von 11,1% nötig, im nächsten Sommer 19% und 2024 sogar 20,4%“

 

 

+++ Beispiel Rentenanpassungen im 3-Jahresrhythmus (Anpassungsart und -umfang abhängig von Zusagetyp und Durchführungsweg): zum Stichtag 1. Juli war bAV-Rentenanpassung nach Verbraucherpreisindex (VPI) von 11,1% nötig (2022), im nächsten Sommer 19,0% und 2024 sogar 20,4% +++ Verpflichtungsumfang steigt wegen zu erwartender Erhöhungen bei Annahmen zum Rententrend in diesjährigen Jahresabschlüssen um 2-4% +++ aktuell Überkompensation durch Zinsentwicklung nach IFRS, aber nach HGB keine Entlastung durch Rechnungszins (höhere Rentenanpassungen in Kombination mit leicht sinkendem Rechnungszins) +++

+++ Folge für HEUTIGE Arbeitnehmer: weniger Realeinkommen, Entwertung der bAV, aber je nach Zusageart evtl. Werterhalt bei Rentnern +++ Wert der bAV-Anwartschaften sinkt, da keine VPI-Anpasssung für Anwärter (ggf. Kompensation durch höheres Gehalt) +++ kapitalmarkt-orientierte Zusagen wirken Inflation möglicherweise durch höhere Anlageerträge entgegen +++ Garantiemodelle gehören bei Inflation noch mehr auf Prüfstand, da Garantieleistungen ohne entsprechend hohe Überschüsse zunehmend unattraktiv +++ Entgeltumwandlung: immer öfter Reduzierung bzw. Aussetzung gewünscht wegen gesunkenem Realeinkommen +++

+++ Empfehlung für bAV-Verantwortliche: Inflationskosten identifizieren und frühzeitig Bewertungsparameter für Jahresabschlüsse abstimmen +++ danach Inflations-Check für Versorgungssysteme +++ Inflationsfestigkeit als Faktor für künftige Neuordnungen von Versorgungssystemen berücksichtigen +++ Rentenanpassung gemäß Nettolohnentwicklung aktuell stark nachgefragt, aber in der Praxis nicht umsetzbar +++ zumeist auch nicht vorteilhaft, da für Anpassungsprüfung nicht nur auf 3-Jahreszeitraum, sondern auf Zeit ab jeweiligem Rentenbeginn abzustellen ist +++ Politik muss Generationengerechtigkeit bei bAV in Blick nehmen, da aktuelle Rentenanpassungen Mittel für Leistungsbezieher binden, die dann möglicherweise für Anwärter fehlen +++ 

Görgen: Im Frühjahr startet die Gesetzgebung

Peter Goergen, BMAS. Foto: Dietmar Gust, HB.

Ergebnisse des angestoßenen bAV-Fachdialoges werden Mitte 2023 in Gesetzgebung münden, prognostiziert Peter Görgen, Referatsleiter Zusätzliche AV im BMAS und nunmehr 20 Jahre im Ministerium tätig:

+++ aktuelle „Baustelle“: Abschaffung Hinzuverdienstgrenzen für Frührentner in GRV ab 1. Januar 23 geplant (Entwurf SGB-Änderungsgesetz am 30. Novembrer zur Anhörung im Bundestag) +++ Auswirkung auf bAV: § 6 BetrAVG anzupassen, um künftig auch ungekürzten bAV-Anspruch bei gesetzlicher Teilrente zu sichern +++ Folgeänderungen auch in VAG angebracht für Pensionskassen, um Ersatz wegfallenden Erwerbseinkommens nicht mehr so restriktiv auszulegen +++

+++ EU-Regulierung berührt bAV auch auf abstruse Weise +++ Beispiel: „Anti-Entwaldungs-Verordnung” (Regulation on deforestation-free products) +++ auch Finanzdienstleister aufgenommen und insb. Pensionskassen betroffen +++ Hintergrund: Finanzdienstleister dürften nur tätig werden, wenn kein oder nur vernachlässigbares Risiko, dass betreffende Dienstleistungen direkt oder indirekt zu Entwaldung, Waldschädigung oder Waldumwandlung führt +++ aktuell im Trilog +++ BMAS will Finanzdienstleister da raushaben, aber aktuell alles noch offen +++

+++ Fachdialog zur bAV: inzwischen alle Stellungnahmen eingegangen +++ nach Sichtung kommen Diskussionen nach Schwerpunkten und in kleineren Kreisen +++ am Ende folgt wahrscheinlich große Runde und im Frühjahr 2023 Start des Gesetzgebungsverfahrens +++ Stichworte zu Fachdialog-Themen betreffen Verbesserungen in Arbeits-, Aufsichts- und Steuerrecht zugunsten bAV +++

+++ Konkret im Arbeitsrecht: Umfang der Arbeitgeberhaftung/Beitragsgarantie, Generationengerechtigkeit/Eingriffsmöglichkeiten in bestehende Zusagen, Rentabilität/Kosten bei Entgeltumwandlung, weniger Komplexität und mehr Transparenz +++

+++Konkret im Aufsichtsrecht: Anlagemöglichkeiten mit höheren Renditen, mehr Flexibilität für Pensionskassen bei Bedeckung, nachhaltige Anlageformen/ESG-Kriterien +++

+++ Konkret im Steuerrecht: Optimierung Geringverdienerförderung +++

+++ zudem Sozialpartnermodell auf Agenda: erleichterte Nutzung durch Nichttarifgebundene, Auszahlungsmodalitäten, aufsichtsrechtlicher Rahmen/Abgrenzung zum Arbeitsrecht, spezifische steuerliche Förderung +++

+++ „Sonstiges“ bei Fachdialog: Arbeitsgerichtsverfahren, § 6a EStG, „Doppelverbeitragung“ GKV +++

Jargstorff: Erfolg der Kapitalanlage das eine, exzellenter „Member-Service“ aber das andere

Dirk Jargstorff, Bosch. Foto: Dietmar Gust, HB.

In der bAV-Administration ist ein Perspektivwechsel angebracht, meint Dirk Jargstorff, Leiter Betriebliche Versorgungsleistungen Robert Bosch GmbH und Chef des Bosch Pensionsfonds:

+++ Praxisbericht: wie angestaubter Rentenservice sukzessive unter Berücksichtigung ständig steigender Digitalkompetenz der Versorgungsberechtigten und Rentner weiterentwickelt wird +++ Bosch verzeichnet 47% mehr Neurentner seit 2018 +++ „Babyboomer kommen wirklich“ +++

+++ schon in letzten Jahren Arbeitsaufkommen in bAV-Administration stark gestiegen +++ Erfolg der Kapitalanlage fundamental, exzellenter „Member-Service“ aber auch +++ Employee Experience enorm wichtig für Wertbeitrag von HR im Unternehmen +++ Erwartungen der Begünstigten und deren Digitalkompetenz steigen +++ es droht Reputationsverlust bei wichtigsten Stakeholdern, wenn nicht auch bAV-Administration exzellent funktioniert +++

+++ beim Bosch-Vorsorgeplan dieser Perspektivwechsel eingeläutet: Setzen von Thema über Prozess und Schnittstelle für Begünstigte zur Kommunikation und Interaktion war gestern +++ heute muss es umgekehrt laufen, Kommunikation und Interaktion sind Ausgangspunkt und „Moments of Truth“, in denen es zu entscheidenden Kontakten kommt +++ Member-Service im Spannungsfeld zwischen hoher Kundenzufriedenheit und effizienter Umsetzung, „müssen sich ergänzen und nicht widersprechen“ +++ wichtige Elemente: Employee Experience, Innovation Lab – Operations – Communication, Servicekultur, Reporting und Transparenz, offene Fehlerkultur +++ nicht minder wichtig: agile Zusammenarbeit und gemeinsame Lenkung, effektives Projektmanagement, Expertenservice, kontinuierliche Verbesserung sowie resiliente Administration (störanfällig auch wegen Home Office) +++ Kommunikation und Aufgabensteuerung noch besser auf absehbare Renteneintritte zuzuschneiden +++

+++ Nachweisgesetz hilft nicht gerade bei bAV-Digitalisierung +++ Verpflichtung des Arbeitgebers, Arbeitnehmer schriftlich über vereinbarte wesentliche Vertragsbedingungen zu informieren, ist Rückschritt bei Digitalisierung, auch in bAV +++ Beispiel Bosch: digitales Portal mit zeitnaher, einfacher, ständiger und moderner Kundenkommunikation nutzen fast 100.000 Mitarbeiter (von 140.000) +++ damit der geplanten digitalen Rentenübersicht als Schnittstelle technisch ein Stück voraus +++

+++ sein Fazit: exzellenter Member-Service ist erfolgskritisch +++ darf nicht hinter andere Services zurückfallen +++ organisatorisch IT nahebringen +++ Member-Service bedeutet konsequente, digitale Ausrichtung Prozesse auf die Begünstigten – Kostenfokus dabei kein Widerspruch +++ Member-Service fußt auf Geschwindigkeit, Transparenz und kontinuierlicher Verbesserung – auch durch permanentes Kundenfeedback +++

Röhle: IORP-II guter Rechtsrahmen – mit Chance auf sinnvolle Weiterentwicklung

Christian Röhle, Hoechster Penka. Foto: Dietmar Gust, HB.

Die Regulierung geht auch auf EU-Ebene weiter, berichtet Christian Röhle, Leiter Pensionskassenmanagement & Recht Hoechster Pensionskasse:

+++ Beispiel: Call for Advice (CfA) der EU-Kommission zur IORP-II-Richtlinie +++ für EbAV sind seit langem EU-weite aufsichtsrechtliche Mindeststandards definiert (Tätigkeit und Beaufsichtigung) +++ auf aktuelle Standards setzt von Zeit zu Zeit spezifisches Beratungsersuchen der EU-Kommission auf +++ Bitte an EIOPA um Auskünfte zu konkreten Fragestellungen, die im Beratungsersuchen spezifiziert werden (= Call for Advice) +++

+++ Antwort der Aufsichtsbehörde in Form eines „Advice-Dokumentes“ – regelmäßig nach (öffentlicher) Konsultation von Stakeholdern +++ aktueller Anlass für CfA: ursprünglich sollte schon bis 13. Januar EU-Kommission Wirksamkeit der EbAV-II-RL überprüfen und EU-Parlament Bericht vorlegen +++ Überprüfung bezieht sich auf Angemessenheit, grenzübergreifende Tätigkeit, Erfahrungen und Auswirkungen auf Stabilität von EbAV, Leistungs- und Renteninformationen +++ Renteninformation soll neu gefasst werden („adäquate Funktion der Renten-Info“) +++ EU-Kommission fürchtet auch Erosion von AN-Schutzrechten durch vielfachen Wechsel von DB auf DC mit Verlagerung des Investmentrisikos vom AG auf AN +++ EIOPA soll dazu auf bereits erledigte Arbeiten (DC-Schemes) aufbauen +++

+++ dabei auch Implikationen der EU-Strategie zur Finanzierung nachhaltiger Wirtschaft +++ drei Themen: 1. Prüfung von Nachhaltigkeitsaspekten in Bezug auf treuhänderische Pflichten von IORPs/EbAV +++ 2. Prüfung, ob Ansatz der RL, wonach Vermögenswerte zum größtmöglichen und langfristigen Nutzen der Versorgungsanwärter und Leistungsempfänger anzulegen sind, erweitert werden müssen +++ 3. mögliche Integration „doppelter Wesentlichkeit“, die neben den genannten Zielen auch gesellschaftliche und ökologische Aspekte umfasst +++ weiteres Thema: Diversität und Inklusion in Leitungsorganen +++

+++ EIOPA-Brief an EU-Institutionen im April, hier ggf. Anpassungen in Richtlinie vorzunehmen +++ in diesem Kontext relevante Themen: Verhältnis zu Proportionalitätsgrundsatz, paritätische Besetzung von EbAV-Führungspositionen, Verhältnis zu „fit and proper“ +++

+++ aktueller Zeitplan in Bezug auf Deutschland: Umfrage bei BaFin läuft +++ 03-06/23: Öffentliche Konsultation durch EIOPA (Stakeholder-Diskurs) +++ ursprünglich 07/23 (verschoben auf 10/23): finales Advice-Dokument von EIOPA an EU-Kommission +++

+++ sein Fazit: bisherige RL = guter Rechtsrahmen mit Chance auf sinnvolle Weiterentwicklung, etwa zu Stärkung Proportionalität +++ jetzige Evaluierung aber zu früh wegen fehlender Erfahrungswerte +++ Ausblick: IORP-III 2023 noch nicht in Sicht, da im Frühjahr 2024 Europawahl +++ Überarbeitung IORP-II beginnt erst danach +++ Komplettüberarbeitung nicht zu erwarten +++ Leitungsgremien in deutschen EbAV teilweise schon heute schwierig zu besetzen, mit Diversität und Inklusion noch mehr Herausforderungen +++

Fazit von LEITERbAV: Und jährlich grüßt die Regulierung

+++ Modernisierung und Werthaltigkeit der bAV durch hohe Inflation zusätzlich erschwert +++ notwendige hohe Rentenanpassungen bringen auf Verpflichtungsseite neue bilanzielle Herausforderungen +++ womöglich Chance auf Renaissance für Pensionskassen und weiteren Aufschwung von Direktversicherungen (wegen Exit-Option: keine Anpassungsprüfpflicht, falls alle Überschüsse ab Rentenbeginn zur Erhöhung der laufenden Leistungen) +++ vernünftig: Inflationsfestigkeit für künftige Neuordnungen von Versorgungssystemen als festes Kriterium berücksichtigen +++ Regulierung im Inland lässt durch Fachdialog Verbesserungen in Arbeitsrecht, Finanzaufsichtsrecht und Steuerrecht zugunsten bAV erwarten +++ Regulierung durch EU lässt eher zusätzliche Bürokratie erwarten +++ insbesondere Einzug von Diversität und Inklusion in EbAV-Leitungsgremien lässt Komplikationen und ggf. Zusatzkosten erwarten +++ immerhin: IOPR-II-Komplettüberarbeitung nicht zu erwarten +++

Teil I der Berichterstattung zu der Tagung findet sich auf LEITERbAV hier.

Teil II findet sich hier.

Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

LEITERbAV bemüht sich um diskriminierungsfreie Sprache (bspw. durch den grundsätzlichen Verzicht auf Anreden wie „Herr“ und „Frau“ auch in Interviews). Dies muss jedoch im Einklang stehen mit der pragmatischen Anforderung der Lesbarkeit als auch der Tradition der althergerbachten Sprache. Gegenwärtig zu beobachtende, oft auf Satzzeichen („Mitarbeiter:innen“) oder Partizipkonstrukionen („Mitarbeitende“) basierende Hilfskonstruktionen, die sämtlich nicht ausgereift erscheinen und dann meist auch nur teilweise durchgehalten werden („Arbeitgeber“), finden entsprechend auf LEITERbAV nicht statt. Grundsätzlich gilt, dass sich durch LEITERbAV alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen sollen und der generische Maskulin aus pragmatischen Gründen genutzt wird, aber als geschlechterübergreifend verstanden werden soll. Auch hier folgt LEITERbAV also seiner übergeordneten Maxime „Form follows Function“, unter der LEITERbAV sein Layout, aber bspw. auch seine Interpunktion oder seinen Schreibstil (insb. „Stakkato“) pflegt. Denn „Form follows Function“ heißt auf Deutsch: "hässlich, aber funktioniert".

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