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Der delegierte Rechtsakt in der europäischen Rechtsetzung:

Die Grenzen parlamentarischer Kontrolle (I)

 

Delegierte Rechtsakte, Durchführungsrechtsakte, technische Regulierungs- und Durchführungsstandards: Christian Röhle analysiert die weitreichenden legislativen Möglichkeiten, die das europäische Recht der Europäischen Kommission zubilligt. Teil I einer Kompaktversion eines gleichnamigen Beitrags aus der aktuellen aba-Zeitschrift BetrAV 06/2014.

 

 

Christian Roehle
Christian Roehle

Gesetzgeber der Europäischen Union sind das Europäische Parlament und der Europäische Rat. Von der Europäischen Kommission als dritter für das Gesetzgebungsverfahren maßgeblicher Institution geht dabei in der Regel die Gesetzesinitiative aus.

 

Losgelöst von dieser eindeutigen Kompetenzzuweisung an Parlament und Rat sehen die EU-Verträge seit dem Vertrag von Lissabon auch ausdrücklich Kompetenznormen vor, wonach die Kommission selbst einen Rechtsakt vorlegen und diesen ohne oder mit nur geringem Einfluss von Parlament und Rat beschließen kann.

 

Dabei handelt es sich zum einen um die Möglichkeit der Kommission zum Erlass delegierter Rechtsakte und zum anderen um die Option zu Durchführungsrechtsakten. Von beidem wird zunehmend Gebrauch gemacht. Die Solvency-II-Richtlinie ist bereits durch Durchführungsrechtsakte konkretisiert worden. Auch der Entwurf der Pensionsfondsrichtlinie sieht eine (weitere) Ausgestaltung durch delegierte Rechtsakte der Kommission vor. Während das (ordentliche) europäische Gesetzgebungsverfahren dabei insbesondere aufgrund der Beratungen im Parlament transparent und einsehbar ist, vollzieht sich der Erlass von Rechtsakten unmittelbar durch die Kommission weitgehend losgelöst nicht nur von der Öffentlichkeit, sondern auch von einer parlamentarischen Kontrolle.

 

Dabei sind sowohl der delegierte Rechtsakt als auch der Durchführungsrechtsakt keine völlig neuen Elemente, die mit dem Vertrag von Lissabon in die Rechtsetzungspraxis der EU eingefügt worden sind. Vielmehr sind ihre „Vorgänger“ bereits seit 1962 in ihren Ursprüngen im Wege der sogenannten „Komitologie“ (von frz. comité für Ausschuss) bekannt, bei der die Kommission in der Vergangenheit unter Beteiligung von Ausschüssen, besetzt mit Vertretern der Mitgliedstaaten, vergleichbare Rechtsakte ohne Einbeziehung von Parlament und Rat erlassen konnte. Die Aufnahme in die primärrechtlichen Verträge hat nun erstmals zu einer expliziten Trennung solcher Rechtsakte in delegierte und Durchführungsrechtsakte geführt, welche die Beteiligungspflicht der Ausschüsse und damit letztlich den Einfluss der Mitgliedstaaten zurückgedrängt hat.

 

 

Delegierte Rechtsakte

 

Art. 290 AEUV regelt die Kompetenz der Kommission, delegierte Rechtsakte zu erlassen, um einen Gesetzgebungsakt, also im Normalfall eine Verordnung oder eine Richtlinie, zu ergänzen oder bestimmte „nicht wesentliche Vorschriften“ des Dokumentes abzuändern und damit in einzelnen Bereichen originäre legislative Aufgaben wahrzunehmen. Allein „wesentliche Teile“ des Gesetzgebungsaktes sind also einer Einflussnahme durch die Kommission entzogen; die Unterscheidung dürfte im Einzelfall schwierig sein und letztlich der Einschätzungsprärogative der EU-Institutionen unterliegen.

 

Die Kompetenznorm aus dem AEUV kann jedoch niemals alleinige Rechtsgrundlage für einen delegierten Rechtsakt sein. Zwingend muss stets zusätzlich eine konkrete Befugnisübertragung zugunsten der Kommission in dem Gesetzgebungsakt selbst (sogenannter Basisrechtsakt) vorgesehen sein und insbesondere Ziele, Inhalt(e), Geltungsbereich und Dauer der Kompetenzübertragung festlegen. Dies kann eine Kontrollmöglichkeit für Parlament und Rat beim Erlass delegierter Rechtsakte einschließen – sei es ein Widerrufsrecht bezüglich der gesamten erteilten Befugnisübertragung und / oder ein Einspruchsrecht für Parlament und Rat, um einzelne delegierte Rechtsakte der Kommission zurückzuweisen und damit deren Erlass zu verhindern.

 

 

Widerrufsrecht vs. Einspruchsrecht

 

Ist das Recht zum Widerruf der erteilten Kompetenz vorgesehen, können Rat oder Parlament jederzeit beschließen, diese zurückzunehmen. Es reicht, wenn eine der Institutionen sich hierfür entscheidet. Das Parlament muss dies mit der Mehrheit seiner Mitglieder beschließen, der Rat mit qualifizierter Mehrheit. Bereits erlassene delegierte Rechtsakte bleiben wirksam.

 

Bei einem Einspruchsrecht können einzelne delegierte Rechtsakte der Kommission nur dann in Kraft treten, wenn weder Rat noch Parlament mit der Mehrheit der Mitglieder respektive mittels qualifizierter Mehrheit innerhalb einer Frist Einwände erheben. Die übertragene Befugnis bleibt unberührt. Auch hier reicht es bereits aus, wenn eine der beiden Institutionen Einwand erhebt.

 

Im Regelfall wird eine Befugnisübertragung zum Erlass delegierter Rechtsakte beide Kontrollmöglichkeiten für Parlament und Rat vorsehen. So sind beispielsweise im Entwurf der IORP-II-RL sowohl Widerrufs- als auch Einspruchsrecht enthalten. Zumindest theoretisch ist die Kompetenz zu delegierten Rechtsakten auch ohne Einschränkungen denkbar, in der Praxis allerdings wenig wahrscheinlich.

Anmerkung 22.9.: Der zwischenzeitlich von der italienischen Ratspräsidentschaft vorgelegte Kompromissvorschlag zu der Richtlinie sieht hier eine Kompetenzverlagerung auf EIOPA vor.

 

Nicht mehr verpflichtend vorgesehen ist die Konsultation eines Ausschusses, der mit Experten der Mitgliedstaaten besetzt ist. Obwohl die Kommission Ende 2009 angekündigt hatte, weiterhin systematisch Sachverständige der nationalen Behörden im Rahmen der Vorarbeiten zu delegierten Rechtsakten einzubeziehen (1) und insbesondere im Bereich Finanzdienstleistung sogar die vorherige Einbeziehung von Experten versichert hat (2), sind solche Konsultationen mit entsprechenden Stellungnahmen also nun keine unabdingbaren Erlassvoraussetzungen mehr.

 

 

Ende des ersten von drei Teilen.

Teil II findet sich hier.

Teil III findet sich hier.

 

Der Autor ist als Jurist bei der Pensionskasse der Mitarbeiter der Hoechst-Gruppe VVaG beschäftigt. Zu den Schwerpunkten seiner Tätigkeit gehört unter anderem die Begleitung europäischer Gesetzgebungsvorhaben.

 

Die vollständige Version dieses Beitrags ist erschienen in der aba-Zeitschrift BetrAV 06/2014.

 

 

Fußnoten:

1 Kom-Mitteilung an Parlament und Rat vom 09.12.2009 (2009/673/EG), 4.2.

2 Erklärung Nr. 39, Schlussakte der Regierungskonferenz zur Annahme des Vertrages von Lissabon.

 

 

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