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Zwei Mal dritter Senat:

Der Vorrang des Versorgungszwecks

Ablösung von Gesamtzusagen durch Betriebsvereinbarungen und keine betriebliche Altersrente vor der gesetzlichen: Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat kürzlich zwei für die bAV bedeutsame Entscheidungen getroffen. Professor Reinhold Höfer bewertet die Urteile grundsätzlich sowie aus Sicht der Praxis.

 

In dem Verfahren 3 AZR 56/14 vom 10. März 2015 war darüber zu befinden, wann eine einseitig vom Arbeitgeber verkündete Versorgung (Gesamtzusage) durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung unter Kürzung des Dotierungsrahmens verschlechtert werden durfte. In dem Fall 3 AZR 897/12 vom 13. Januar 2015 spielte die Auslegung von Gesamtzusagen eine Rolle und das Begehren der Arbeitnehmer, die betriebliche Altersleistung schon vor der gesetzlichen zu erhalten.

 

I. Ablösung von Gesamtzusagen durch Betriebsvereinbarungen

 

1.) Der Tatbestand

 

Die 1976 verkündete Gesamtzusage, die eine Altersrente in Abhängigkeit vom vor der Pensionierung bezogenen Gehalt vorsah, wurde 1982 durch eine Betriebsvereinbarung abgelöst, die dienstzeitabhängige Festbeträge anstelle der bisherigen Versorgung setzte, wobei Übergangsregelungen eingeräumt wurden. Im Jahre 2002 wurde für künftige Dienstjahre eine dienstzeitabhängige Kapitalversorgung durch eine erneute Betriebsvereinbarung geregelt. Die Klägerin begehrte die Anwendung der 1976 erteilten Gesamtzusage mit der Begründung, dass schon die Betriebsvereinbarung von1982 die vorherige Gesamtzusage nicht wirksam abgelöst habe, da verschlechternde Betriebsvereinbarungen nur dann die Gesamtzusage ersetzen könnten, wenn sie „betriebsvereinbarungsoffen“ seien.

 

2.) Weitgehende Betriebsvereinbarungsoffenheit bei Gesamtzusagen

 

Das BAG hat in der Randnummer 32 unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung ausgeführt, dass betriebliche Altersversorgung aus einer Gesamtzusage nicht erstarren dürfe und dass der Arbeitnehmer mit einer Änderung der Versorgung wegen ihres Langfristcharakters rechnen müsse. Das Interesse des Unternehmens, die Versorgung an geänderte Verhältnisse anzupassen und das Vereinheitlichungsziel haben Vorrang vor der Beibehaltung bisheriger Regelungen. Deshalb seien ablösende Betriebsvereinbarungen selbst dann zulässig, wenn sie den Dotierungsrahmen der bisherigen Gesamtzusage kürzen, obwohl sie nicht ausdrücklich betriebsvereinbarungsoffen waren oder der Betriebsrat an der Gesamtzusage zumindest nicht mitgewirkt habe.

 

Mit dieser Rechtsprechung verabschiedet sich der dritte Senat des BAG nicht ausdrücklich, aber im Ergebnis von dem Beschluss des großen Senates des BAG (GS 1/82 Rn. 53 ff.) und den Folgeentscheidungen des dritten Senates, die eine den Dotierungsrahmen kürzende Neuregelung nur bei Betriebsvereinbarungsoffenheit zuließen. Er macht einen Kunstgriff, indem er bei Versorgungsversprechen regelmäßig einen Änderungsbedarf unterstellt, der von vornherein die Möglichkeit der Einschaltung des Betriebsrates aufgrund seiner Mitbestimmungsrechte impliziere. Somit seien auch Gesamtzusagen immer betriebsvereinbarungsoffen, es sei denn, der Arbeitgeber habe dies ausdrücklich ausgeschlossen. Aber die Betriebsvereinbarungsoffenheit wird der Arbeitgeber so gut wie nie abbedungen haben, zumal der Ausschluss wegen der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrates bei der Leistungsplangestaltung kaum halten würde.

 

3.) Konsequenzen für die Praxis

 

Die Praxis wird die Flexibilität, die mit jener Entscheidung erreicht wurde, begrüßen. Allerdings darf hierbei nicht vergessen werden, dass auch ablösende Betriebsvereinbarungen einer Billigkeitskontrolle durch die Gerichte unterliegen. Dies bedeutet, dass die ablösende Betriebsvereinbarung nur dann Bestand hat, wenn hinreichende Änderungsgründe vorliegen und dabei die sogenannte „Dreistufentheorie“ beachtet wird, nach der insgesamt verschlechternde Eingriffe nur dann zulässig sind, wenn zumindest „sachliche Gründe“ für eine Änderung vorliegen. Hierbei gesteht das BAG den Unternehmen eine Einschätzungsprärogative zu.

 

II. Betriebliche Altersrente vor der gesetzlichen

 

1.) Der Tatbestand

 

Der Arbeitgeber hatte durch eine Gesamtzusage Altersrenten zugesagt, die bei Frauen frühestens ab Vollendung des 60. Lebensjahres einsetzen sollten, wenn dann die gesetzlichen Altersrenten bezogen werden. Es handelte sich um eine Versorgungszusage mit Limitierungsklausel, auf welche die gesetzliche Altersrente angerechnet wurde. Im Jahre 2010 wurde die Klägerin schriftlich darauf hingewiesen, dass auch die betriebliche Altersleistung frühestens aufgrund der Neuregelungen in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr ab dem vollendeten 60 Lebensjahr, sondern erst ab dem höheren Alter beginnen solle, ab dem auch die gesetzliche Altersrente in Anspruch genommen werde. Die 1963 geborene Klägerin begehrte die Feststellung, dass das Unternehmen die betriebliche Altersleistung nach wie vor ab Vollendung des 60. Lebensjahres leisten müsse. Diese Zusage lehnte das Unternehmen ab.

 

2.) Auslegung von Gesamtzusagen

 

Zunächst betont das BAG wie in der vorab besprochenen Entscheidung, dass Gesamtzusagen nicht „erstarren“ dürfen. Es sei davon auszugehen, dass der Arbeitgeber im Interesse der Einheitlichkeit nur eine Versorgung nach den jeweils bei ihm geltenden Versorgungsregeln zusagen wolle.

 

Unstreitig handelte es sich bei der Versorgungszusage um eine sogenannte Gesamtzusage. Bei deren Auslegung sind auch die für allgemeine Geschäftsbedingungen maßgeblichen Grundsätze der §§ 305 ff. BGB zu beachten. Dabei gilt zwar zunächst der Vertragswortlaut, aber bei mangelnder Eindeutigkeit nur insoweit, wie er „in Bezug auf typische und von redlichen Geschäftspartnern verfolgte Ziele“ gelten soll.

 

Da das in der Versorgungszusage verwendete „nur“ kein eindeutiges Auslegungsergebnis lieferte, erfolgte die Auslegung mit Hilfe der von der Zusage verfolgten Ziele. Dabei gelangt das BAG überzeugend zu dem Ergebnis, dass durch das betriebliche Versorgungsversprechen eine Ergänzung der gesetzlichen Altersrente bezweckt war. Dies bedeute, dass auch die gesetzliche Rente bezogen werden müsse, weil ansonsten die Ergänzungsfunktion der gesetzlichen Rente durch die betriebliche nicht erfüllt werden könne.

 

Bemerkenswert bleibt, dass die bei wörtlicher Auslegung verbliebenen Zweifel nicht unbesehen zu Lasten des Arbeitgebers gingen, sondern dass dem Versorgungszweck Vorrang eingeräumt wurde. Auch die starke Betonung des Versorgungszieles ist zu begrüßen.

 

3.) Bezug der gesetzlichen Rente als Leistungsvoraussetzung

 

Es stellt sich die Frage, ob die Entscheidung den Schluss zulässt, dass betriebliche Altersrenten generell erst ab dem Bezug der gesetzlichen Altersleistung gefordert werden können.

 

Hierfür könnte die Tatsache sprechen, dass bei Arbeitnehmern die betriebliche Altersleistung regelmäßig die gesetzliche ergänzen soll und dass daher auch kein Grund für die betriebliche Leistung vorliegt, wenn die gesetzliche Altersleistung noch nicht abgerufen wird. Diese Auffassung wird durch den Verweis des BAG auf § 6 Betriebsrentengesetz gestützt, wonach dem Arbeitnehmer die betriebliche Altersleistung ab der Zahlung der gesetzlichen Altersrente zusteht und zwar auch dann, wenn die Zusage dies nicht so vorsieht. Dies legt aber auch den Umkehrschluss nahe, dass ein Anspruch auf die betriebliche Altersleistung so lange nicht besteht, wie keine gesetzliche gewährt wird. Nach dem Gesetzeszweck sollen die betriebliche und die gesetzliche Altersleistung zeitgleich einsetzen.

 

Der Umkehrschluss ist jedoch nicht zwingend. Denn § 6 Betriebsrentengesetz räumt dem Arbeitnehmer nur das Recht auf gleichzeitigen Bezug der gesetzlichen und betrieblichen Zahlung ein. Hingegen schließt § 6 das Recht des Arbeitnehmers, aus der Versorgungszusage die betriebliche Altersleistung früher fordern zu können, nicht aus. So kann der Umkehrschluss sicherlich dann nicht greifen, wenn dem Arbeitnehmer eine betriebliche Altersleistung versprochen wurde, er aber keinen Anspruch auf eine gesetzliche Altersleistung besitzt. Der Umkehrschluss ist aber auch dann nicht zwingend, wenn die gesetzliche Altersleistung gemessen an der betrieblichen unbedeutend ist.

 

Das BAG hatte bei seiner Entscheidungsfindung unter anderem auf die in der Zusage enthaltene Voraussetzungen abgestellt, dass die gesetzliche Leistung gewährt werden musste und dass sie auf die betriebliche anzurechnen war. Damit stellt sich die Frage, ob eine betriebliche Altersrente auch dann verweigert werden darf, wenn die Zusage nicht den Bezug der gesetzlichen Altersleistung und deren Anrechnung verlangt.

 

Letztlich wird man vor dem Hintergrund der Ergänzungsfunktion der betrieblichen Altersversorgung die Nichtzahlung der betrieblichen Altersleistung häufig – aber nicht immer – rechtfertigen können, wenn noch keine gesetzliche Altersleistung bezogen wird. Denn anderenfalls könnte der Arbeitnehmer trotz fehlender gesetzlicher Altersleistung und trotz fortgesetzter Erwerbstätigkeit eine Leistung verlangen, die wegen des Versorgungszwecks regelmäßig erst mit der Beendigung des Berufslebens als Ersatz für das entfallene Einkommen gewährt werden soll.

 

Der Autor ist Mitverfasser eines Standardkommentars zum Arbeits-, Steuer-, Sozialabgaben-, Bilanz- und IFRS-Recht der betrieblichenAltersversorgung.

 

Von ihm sind zwischenzeitlich bereits auf LEITERbAV erschienen:

 

Diskussion um die entgeltliche Übernahme von Versorgungsverpflichtungen:

Teilwertverfahren statt PUC nicht folgerichtig

von Reinhold Höfer, Luzern, 17. April 2013

 

Trennung von Arbeits-, Steuer- und Versicherungsaufsichtsrecht:

Die „Reine Beitragszusage“ über den Pensionsfonds (I)

von Reinhold Höfer, Luzern, 14. April 2014

 

Trennung von Arbeits-, Steuer- und Versicherungsaufsichtsrecht:

Die „Reine Beitragszusage“ über den Pensionsfonds (II)

von Reinhold Höfer, Luzern, 15. April 2014

 

Zwei Mal dritter Senat:

Der Vorrang des Versorgungszwecks

von Professor Reinhold Höfer, Luzern, 11. Juni 2015

 

Pensions in der Praxis: bAV für die Mitarbeiter von Freiberuflern

Rückgedeckte Direktzusage versus Geringverdienerförderung – ein Vergleich

von Professor Reinhold Höfer, Luzern, in der Tactical Advantage Volume 2, im September 2019

 

Gegenwart und Zukunft von BOLZ und BZML:

Zwischen Historie und Unmöglichkeit

von Professor Reinhold Höfer, Luzern, 7. April 2021

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Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

LEITERbAV bemüht sich um diskriminierungsfreie Sprache (bspw. durch den grundsätzlichen Verzicht auf Anreden wie „Herr“ und „Frau“ auch in Interviews). Dies muss jedoch im Einklang stehen mit der pragmatischen Anforderung der Lesbarkeit als auch der Tradition der althergerbachten Sprache. Gegenwärtig zu beobachtende, oft auf Satzzeichen („Mitarbeiter:innen“) oder Partizipkonstrukionen („Mitarbeitende“) basierende Hilfskonstruktionen, die sämtlich nicht ausgereift erscheinen und dann meist auch nur teilweise durchgehalten werden („Arbeitgeber“), finden entsprechend auf LEITERbAV nicht statt. Grundsätzlich gilt, dass sich durch LEITERbAV alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen sollen und der generische Maskulin aus pragmatischen Gründen genutzt wird, aber als geschlechterübergreifend verstanden werden soll. Auch hier folgt LEITERbAV also seiner übergeordneten Maxime „Form follows Function“, unter der LEITERbAV sein Layout, aber bspw. auch seine Interpunktion oder seinen Schreibstil (insb. „Stakkato“) pflegt. Denn „Form follows Function“ heißt auf Deutsch: "hässlich, aber funktioniert".

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