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Gerhard Kieseheuer im Interview (II):

„Da fehlen 18 bis 19 Prozent Rente“

Die Diskussion über die Doppelverbeitragung von Betriebsrenten ist nicht zu Ende, da für manche große Ungerechtigkeiten fortbestehen. Das hat auch mit der Vorgeschichte zu tun. Gerhard Kieseheuer, Bundesvorsitzender von Direktversicherungsgeschädigte e.V., erklärt die Zusammenhänge aus seiner Sicht erneut im Interview mit Detlef Pohl – und wählt drastische Worte.

 

 

Herr Kieseheuer, Sie hatten die Probleme schon vor einem Jahr im Interview mit LEITERbAV beim Namen genannt. Offenbar war die beitragsrechtliche Systematik der Direktversicherung 1973 eine andere als heute?!

 

Wir Direktversicherungsgeschädigte haben damals in Form einer Gehaltsweiterleitung pauschaliert besteuerten Lohn nach Paragraf 40b EStG direkt über den Arbeitgeber in die Direktversicherung eingezahlt. Nur bei Einmalzahlung, etwa beim Weihnachtsgeld, brauchte man keine Sozialabgaben zu zahlen. Zur Erinnerung: Findet die Pauschalbesteuerung nach Paragraf 40b EStG aus einer Sonderzahlung statt, wird als Verwaltungsvereinfachung auf Sozialbeiträge in der Einzahlungsphase verzichtet. Erfolgt die Dotierung aus dem laufenden Einkommen, griff dieser Vorteil nicht.

 

Das ist mit der heutigen Entgeltumwandlung, die es erst seit 2002 gibt, aber nicht vergleichbar?

 

Die Pauschalbesteuerung wurde für Direktversicherungen bis Ende 2004 nach altem Recht fortgeführt und gilt für 40b-Altfälle der Entgeltumwandlung noch heute. Bei der Entgeltumwandlung ab 2002 nach Paragraf 3 Nr. 63 EStG wird über den Arbeitgeber Bruttolohn des Arbeitnehmers eingezahlt – steuer- und SV-frei. Wenn das Geld ausgezahlt wird, muss der Ex-Arbeitnehmer ohne 40b-Dotierung voll Steuern und seit 2004 auch volle Kranken- und Pflegebeiträge bezahlen, wenn er gesetzlich versichert ist. Entscheidet er sich für Kapitalauszahlung, werden nach 3 Nr. 63 rund 33 Prozent Lohnsteuer auf einmal fällig. Hinzu kommen Sozialabgaben, die auf 120 Monate verteilt, derzeit rund 18,5 Prozent der Kapitalabfindung ausmachen können. Der Arbeitnehmer muss die Sozialabgaben zahlen, die der Arbeitgeber im Berufsleben des Arbeitnehmers gespart hatte.

 

Was stört Sie an dieser „Doppelverbeitragung“ besonders?

 

Es stört mich schon die Bezeichnung Betriebsrente, obwohl das rechtlich wohl korrekt ist. Der Arbeitnehmer zahlt von seinem Lohn ein, und dies wird dann als Betriebsrente bezeichnet. Eine Betriebsrente ist für mich nur dann eine Betriebsrente, wenn der Betrieb sie finanziert hat. Darüber hinaus ist es ungerecht, weil bestehende Verträge rückwirkend geändert worden sind und der Vertrauensschutz nicht beachtet wurde. Es ist auch ungerecht, weil Arbeitnehmer ja in der Berufsphase schon SV-Abgaben auf ihren Lohn bezahlt hatten und in der Rentenphase noch einmal den Arbeitnehmer- und den Arbeitgeberanteil bezahlen müssen. Gesetzlich versicherten Arbeitnehmern, deren Altersvorsorge bis Silvester 2003 beitragsfrei war, fehlen so 18 bis 19 Prozent ihrer Betriebsrente.

 

 

 

 

Wir fordern das uns abgenommene Geld zurück!“

 

 

 

 

Das ändert sich ja gerade, allerdings gibt es nur einen kleinen SV-Freibetrag statt der SV-Freigrenze und keine Beitragsermäßigung. Sind Sie damit zufrieden?

 

Überhaupt nicht. Es bleibt ja bei der Doppel- und Dreifachverbeitragung. Auch eine Halbierung des Beitragssatzes in der Rentenphase wird es nicht geben. Und für viele der 6,3 Millionen Direktversicherte mit Verträgen, die vor 2004 abgeschlossen wurden, bleibt es praktisch bei der vollen SV-Beitragslast, die uns das Gesundheits-Modernisierungsgesetz nachträglich eingebrockt hat. Dazu kommt noch, dass der Beitrag zur Pflegeversicherung vom Freibetrag ab 2020 ausgeklammert bleibt. Wir fordern für unsere Kapitalauszahlung den Stand, den wir vor dem 1. Januar 2004 hatten, und zudem das uns abgenommene Geld zurück. Es handelt sich hierbei nicht um 40 Milliarden Euro, wie der Gesundheitsminister sagt, sondern nur um rund zehn Milliarden Euro.

 

Der Verein hat seine Proteste nach der gesetzlichen Neuregelung, die als fauler Kompromiss bezeichnet wird, sogar verstärkt. Wollen Sie bis zum Bundesverfassungsgericht?

 

Aufgrund der Vielzahl abweisender Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts werden Verfassungsbeschwerden mit unserer Argumentation auch in Zukunft abgewiesen werden. Das Gericht hatte entschieden, dass Kapitaleinmalzahlungen nachträglich für gesetzlich Krankenversicherte mit dem vollen Beitrag, den der Betroffene alleine zu tragen hat, herangezogen werden. Dabei sei es egal, ob die Leistung vom Arbeitgeber selbst oder von einem bAV-Träger ausgezahlt wird, ob arbeitgeber- oder arbeitnehmerfinanziert, ob die Beiträge Brutto- oder Nettoentgelt geleistet wurden, wenn nur der Arbeitgeber Versicherungsnehmer ist. Somit müssen wir seit 2004 ein Hundertzwanzigstel als monatlichen SV-Beitrag gemäß Paragraf 229 SGB V bezahlen.

 

 

 

 

Eine arbeitnehmerfinanzierte Betriebsrente ist zurzeit nicht der richtige Weg. Und wie es aussieht, kann man nie sicher sein, dass gesetzliche Regelungen, auf die bei Vertragsabschluss gebaut wird, auch noch in 30 oder 40 Jahren gelten.“

 

 

 

 

Mit der Neuregelung solle abgelenkt werden von der Fehlinterpretation des SGB V, genaugenommen von Paragraf 229 Absatz 1 Satz 3, kritisieren Sie. Wer interpretiert da was falsch?

 

Es sieht so aus, dass die nachträgliche Verbeitragung der Direktversicherung durch die Spitzenverbände der GKV eigenständig beschlossen wurde, und zwar am 9. und 10. September 2003 in Bochum. Damals war man zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Neufassung sich nicht nur auf Versorgungsbezüge beziehen soll, sondern auch auf originäre Kapitalleistungen. Damit hat die Vorschrift ihren Charakter verändert und zielt nicht mehr auf Kapitalabfindungen allein ab.

 

Stimmt das so? Wie unterschieden sich denn der alte und neue Paragraf 229? Und wie kommen Sie darauf, dass die Verbände das an der Politik vorbei beschlossen haben?

 

Gerhard Kieseheuer, Foto: privat.

Im ursprünglichen Wortlaut hieß es: „Tritt an Stelle eines Versorgungsbezugs (Rentenzahlung) eine nicht regelmäßige Zahlung (Kapitalabfindung)“… Die 2003 erneuerte Fassung hat alle vor Eintritt des Versicherungsfalls in Kapitalabfindungen abgeänderten Versorgungsbezüge beitragspflichtig gemacht, die bis dahin beitragsfrei waren. Der Paragraf lautet seither: Tritt an Stelle eines Versorgungsbezugs (Rentenzahlung) eine nicht regelmäßige Zahlung (Kapitalabfindung) oder ist solche vor Eintritt des Versicherungsfalls vereinbart oder zugesagt worden…“ Die Spitzenverbände haben hier mit einem Trick gearbeitet, um die erweiterte Verbeitragung zu rechtfertigen. Der Gesetzestext bezieht sich aber nur auf Versorgungsbezüge, und die waren immer schon beitragspflichtig. Die Wortwahl „ist eine solche Leistung vor Eintritt des Versicherungsfalls vereinbart oder zugesagt worden” soll gerade erreichen, dass es für die beitragsrechtliche Beurteilung nicht mehr darauf ankommt, ob die Versorgungsleistung als originäre Kapitalzahlung ohne Wahlrecht zugunsten einer Rentenzahlung oder als Kapitalleistung mit Option zugunsten einer Rentenzahlung zugesagt wird.

 

Eine Änderung will der Gesetzgeber um jeden Preis vermeiden, mutmaßen Sie. Wie müsste das Sozialgesetzbuch denn revidiert werden?

 

Das Sozialgesetzbuch muss so ausgelegt werden, wie es geschrieben steht. Es bezieht sich nur auf Versorgungsbezüge, also auf wiederkehrende Rentenzahlungen und daraus resultierende Einmalzahlungen (Kapitalabfindungen), nicht aber auf Kapitalauszahlungen von arbeitnehmerfinanzierten Kapital-Lebensversicherungen, weil das eben keine Versorgungsbezüge sind.

 

Es ist ungewöhnlich, dass der neue bAV-Freibetrag vom Gesetzgeber in einem Zug mit der Grundrente beschlossen wurde. Können Sie sich das erklären?

 

 

 

 

Es ist es mir unverständlich, dass die Politiker meinen, jetzt sei die bAV wieder attraktiv und das Vertrauen wiederhergestellt. Dies zeigt, dass man ihnen nicht trauen darf.“

 

 

 

 

Wir haben sehr starken Druck aufgebaut. Mit dieser Kopplung an die Grundrente kann man elegant vermeiden, die formaljuristisch umstrittene Gesetzeslage noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. Deshalb wird nun eine vermeintliche Fehlerkorrektur im Beitragsrecht der GKV unverständlicherweise an eine Rentenkorrektur gekoppelt. Ein Grund ist aber auch, dass wir mit unserer Forderung nicht mehr im Koalitionsvertrag stehen, man hat uns in der Endfassung einfach gestrichen.

 

Mit der Neuregelung soll sich die Belastung für 60 Prozent der Betroffenen spürbar verringern. Was halten Sie von dieser Prognose?

 

Das ist eine Milchmädchenrechnung. Alle „kleinen“ Renten und Kapitalauszahlungen von Direktversicherungen, die 2019 unter 155,75 Euro blieben, sind ja schon beitragsfrei. Auf diese Beträge, die 2020 auf 159,25 Euro steigen und als Freibetrag in der GKV für alle Betriebsrentner gelten sollen, nicht aber in der gesetzlichen Pflegeversicherung, zahlt man dann bis zu einer Höhe von 318,50 Euro den halben Beitrag. Die bisherige Freigrenze für alle Versorgungsbezüge wurde ja ergänzt um einen Freibetrag in gleicher Höhe nur für die bAV. Was unsere Verträge von vor 2004 betrifft, die ursprünglich SV-frei waren, so hilft die Neuregelung überhaupt nicht, denn eine Rücknahme ist nicht erkennbar. Rund zwei Millionen Direktversicherte haben bereits für zehn Jahre ihre SV-Beiträge bezahlt. Mit der Freibetragsregelung ändert sich sehr wenig. Von den Anwärtern dieser Gruppe werden nun allenfalls Kapitalauszahlungen knapp unter 19.000 Euro befreit. Bei dieser Summe käme fiktiv nur eine Monatsrente von rund 155 Euro zustande. Für eine armutsfeste Betriebsrente bräuchte es aber deutlich höhere Auszahlungen. Und die bleiben oberhalb des Freibetrages weiterhin mit rund 18,5 Prozent beitragspflichtig, nimmt man Kranken- und Pflegekasse zusammen.

 

 

 

Ich halte das nach wie vor für Betrug.“

 

 

 

Auch die Festlegung, dass nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses der Arbeitgeberanteil der SV vom Arbeitnehmer mitgezahlt werden soll, wird durch den Freibetrag in nicht korrigiert.

 

Genau. Hinzu kommt noch, dass Versorgungsbezieher und Vorsorgesparer die einzige Personengruppe in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung sind, die mit dem vollen Beitrag endgültig belastet bleiben. Und privat Krankenversicherte müssen keinen Cent auf ihre bAV bezahlen.

 

Damit reißen Sie strukturelle und strategische Defizite der Politik in Sachen Altersvorsorge an. Würden Sie jungen Leuten überhaupt zu zusätzlicher Vorsorge raten?

 

Grundsätzlich schon, denn die Lücken im Alter werden ja tendenziell größer, wenn man sich nur auf die gesetzliche Rente verlässt. Aber eine arbeitnehmerfinanzierte Betriebsrente ist zurzeit nicht der richtige Weg. Und so, wie es jetzt aussieht, kann man nie sicher sein, dass gesetzliche Regelungen, auf die bei Vertragsabschluss gebaut wird, auch noch in 30 oder 40 Jahren gelten. Das ist ein schlechtes Signal. Die bAV, die ja besonders gefördert werden soll, schneidet besonders schlecht beim Vertrauensschutz ab. Hätten meine Kollegen und ich ihre Vorsorge nicht über den Arbeitgeber angespart, sondern privat nach heutigen Maßstäben, aber aus voll versteuertem Einkommen, würde die Sozialversicherung uns jetzt nicht zur Kasse bitten. Darüber hinaus ist es mir unverständlich, dass die Politiker meinen, jetzt sei die bAV wieder attraktiv und das Vertrauen wiederhergestellt. Dies zeigt, dass man ihnen nicht trauen darf.

 

 

 

 

 

Sorge macht mir, dass Stimmen lauter werden, die fordern, aggressiver zu werden und die gelben Westen anzuziehen, weil die Politiker sonst nicht hören.“

 

 

 

 

Also bleiben Sie bei Ihrer Forderung nach Beseitigung der Doppelverbeitragung und setzen Ihre Proteste fort?

 

Natürlich. Der politische Kompromiss ist eine schwere Katastrophe, denn bis zum 31. Dezember 2003 waren Kapitalauszahlungen aus Direktversicherungen sozialabgabenfrei, seither aber nicht mehr. Ich halte das nach wie vor für Betrug. Wir werden weiter Stellung beziehen, so wie zuletzt am 9. Dezember im Gesundheitsausschuss des Bundestages.

 

Was plant der Verein 2020 für Aktionen?

 

Gerhard Kieseheuer. Foto: Ralf Litera.

 

Der Kampf gegen die ungerechtfertigte Zwangsverbeitragung wird unverändert weitergeführt. Der Zulauf an Mitgliedern ist enorm, unsere Regionalgruppen werden weiter ausgebaut. Zugleich suchen wir weiter das Gespräch mit Politikern und setzen auch die Demonstrationen fort. Sorge macht mir, dass Stimmen lauter werden, die fordern, aggressiver zu werden und die gelben Westen anzuziehen, weil die Politiker sonst nicht hören.

 

 

Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

LEITERbAV bemüht sich um diskriminierungsfreie Sprache (bspw. durch den grundsätzlichen Verzicht auf Anreden wie „Herr“ und „Frau“ auch in Interviews). Dies muss jedoch im Einklang stehen mit der pragmatischen Anforderung der Lesbarkeit als auch der Tradition der althergerbachten Sprache. Gegenwärtig zu beobachtende, oft auf Satzzeichen („Mitarbeiter:innen“) oder Partizipkonstrukionen („Mitarbeitende“) basierende Hilfskonstruktionen, die sämtlich nicht ausgereift erscheinen und dann meist auch nur teilweise durchgehalten werden („Arbeitgeber“), finden entsprechend auf LEITERbAV nicht statt. Grundsätzlich gilt, dass sich durch LEITERbAV alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen sollen und der generische Maskulin aus pragmatischen Gründen genutzt wird, aber als geschlechterübergreifend verstanden werden soll. Auch hier folgt LEITERbAV also seiner übergeordneten Maxime „Form follows Function“, unter der LEITERbAV sein Layout, aber bspw. auch seine Interpunktion oder seinen Schreibstil (insb. „Stakkato“) pflegt. Denn „Form follows Function“ heißt auf Deutsch: "hässlich, aber funktioniert".

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