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Judex non calculat?

65 ist nicht zwingend 67!

 

Nach dem BAG-Urteil zum Mitwandern der Altersgrenze in der bAV bleiben viele Fragen offen. Uwe Langohr-Plato erläutert die mannigfaltigen Konsequenzen für die Praxis.

 

 

Uwe-Langohr-Plato
Uwe-Langohr-Plato

Nach einer im Zusammenhang mit einer Besitzstandsberechnung bei einer verschlechternden Betriebsvereinbarung (Umstellung von Renten- auf Kapitalzusage) getroffenen Entscheidung des BAG (Urteil vom 15.5.2012 – 3 AZR 11/10) ist eine vor dem RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz (RVAltGrAnpG) entstandene Versorgungsordnung, die für den Eintritt des Versorgungsfalles auf die Vollendung des 65. Lebensjahres abstellt, regelmäßig dahingehend auszulegen, dass damit im Wege einer dynamischen Verweisung auf die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung nach §§ 35, 235 Abs. 2 S. 2 SGB 6 Bezug genommen wird. Dies hätte zur Konsequenz, dass eine Altersgrenze 65 regelmäßig als Altersgrenze 67 auszulegen wäre.

 

Enthält eine Versorgungsvereinbarung keine Regelung einer festen Altersgrenze, so war bis Ende 2007 zwingend die Vollendung des 65. Lebensjahres als maßgebliche Altersgrenze anzusetzen. Dies ergab sich aus dem Wortlaut von § 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG, wonach der Unverfallbarkeitsquotient hinsichtlich der maximal erreichbaren Betriebszugehörigkeit durch die Vollendung des 65. Lebensjahres begrenzt wurde. Durch das am 1. Februar 2008 in Kraft getretene RVAltGrAnpG ist § 2 Abs. 1 BetrAVG allerdings dahin gehend abgeändert worden, dass die feste Altersgrenze 65 durch die sogenannte „Regelaltersgrenze“ in der gesetzlichen Rentenversicherung abgelöst worden ist. Damit wird – soweit die Versorgungsvereinbarung keine ausdrückliche anderslautende feste Altersgrenze normiert – die für die Unverfallbarkeitsberechnung maßgebliche Altersgrenze ab 2012 bis 2029 stufenweise – analog zur Anhebung der Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenweise (bis 2024 in Ein-Monats-Schritten und ab 2024 in Zwei-Monats-Schritten) auf das 67. Lebensjahr angehoben.

 

 Umstritten war bislang allerdings die Frage, wie sich die Anhebung der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung und die dementsprechende redaktionelle Anpassung von § 2 Abs. 1 BetrAVG auf solche Versorgungsordnungen auswirkt, die das 65. Lebensjahr ausdrücklich als feste Altersgrenze definiert haben.

 

 

Eindeutiger Wortlaut oder dynamische Verweisung?

 

Teilweise wurde unter Hinweis auf den eindeutigen Wortlaut der Versorgungsordnung die Auffassung vertreten, dass die Anhebung der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung in der bAV nicht automatisch dazu führe, dass sich beim Quotierungsverfahren die mögliche Betriebszugehörigkeitsdauer verlängere.

 

Demgegenüber ist eine andere Auffassung davon ausgegangen, dass die Auslegung der Versorgungszusage regelmäßig zu einem „Mitwandern“ der Altersgrenze führt und die Benennung der Vollendung des 65. Lebensjahres somit eine dynamische Verweisung auf die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung darstellt.

 

Das BAG hat sich in seiner Entscheidung vom 15. Mai 2012 der Ansicht angeschlossen, dass die Festlegung einer festen Altersgrenze 65 in einer betrieblichen Versorgungsordnung grundsätzlich als dynamische Verweisung auf die jeweils geltende Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung anzusehen ist.

Angesichts der Tatsache, dass die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung bereits seit 1916 durchgehend bei der Vollendung des 65. Lebensjahres lag, gab es nach Ansicht des BAG für Arbeitgeber bei der Abfassung von Versorgungsordnungen keine Veranlassung zu abweichenden Formulierungen, wenn an die in der Sozialversicherung geltende Altersgrenze von 65 Jahren angeknüpft wurde.

 

Der Altersgrenze der Vollendung des 65. Lebensjahres liegt nach Ansicht des BAG der Gedanke zugrunde, dass zu diesem Zeitpunkt der Arbeitnehmer regelmäßig seine ungekürzte Altersrente aus der gesetzlichen Sozialversicherung bezieht und das Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt enden wird. Daraus folgert das BAG eine (dynamische) Anlehnung an die im gesetzlichen Rentenversicherungsrecht bestehende Altersgrenze.

 

 

Konsequenzen für die Praxis

 

Das Urteil enthält eine Stichtagsregelung: Durch den Verweis auf das Inkrafttreten des RVAltGrAnpG besteht keine Änderungsnotwendigkeit für vor dem 1. Januar 2008 abgeschlossene Sachverhalte (Besitzstandregelungen, Unverfallbarkeitsbescheide, Rentenfälle, Versorgungsausgleichsberechnungen, Abfindungszahlungen etc.).

 

Ebenfalls nicht anwendbar ist das Urteil, wenn neu eintretende Mitarbeiter nach dem 1. Januar 2008 eine Individualzusage auf Altersversorgung ab dem 65. Lebensjahr erhalten haben. Eine solche Zusage ist aufgrund des eindeutigen Wortlauts nicht auslegungsfähig. Das Rentenalter 65 ist dann eine frühere feste Altersgrenze.

 

Gleiches muss m.E. dann auch gelten, wenn in einem nicht geschlossenen Versorgungssystem neu eintretende Mitarbeiter eine Zusage auf das 65. Lebensjahr erhalten. Hier kommt eine Bestätigung der Altersgrenze 65 durch faktisches Verhalten beziehungsweise betriebliche Übung in Betracht, und zwar auch gegenüber dem Bestand. Dies gilt erst recht, wenn der Arbeitgeber weiterhin die Betriebsrenten mit Alter 65 fällig stellt, sämtliche Berechnungen (Unverfallbarkeitsbescheide, Übertragungswerte, Ausgleichswerte im Versorgungsausgleich etc.) auf das 65. Lebensjahr vornimmt oder aber die Versorgung über Versicherungslösungen rückgedeckt und die Finanzierung dabei unverändert auf das Endalter 65 abgestellt wird.

 

Im Übrigen ist anzumerken, dass der zum Urteil veröffentlichte Leitsatz angesichts der Vielfalt unterschiedlichster Versorgungssysteme in Deutschland viel zu pauschal gefasst ist. Von daher kann das Urteil nicht ohne weiteres als Grundsatzurteil auf alle denkbaren Fallkonstellationen übertragen werden. Vielmehr ist eine differenzierte Bewertung erforderlich.

  • Der vom BAG konkret entschiedene Sachverhalt, dem ein Gesamtversorgungssystem zugrunde lag, ist korrekt entschieden worden. Die Abhängigkeit der Höhe der Versorgungsleistung von der gesetzlichen Rente führt im Gesamtversorgungssystem zwangsläufig zu einem Gleichlauf der zeitlichen Leistungsvoraussetzungen, so dass insoweit eine dynamische Verweisung systemimmanent ist.
  • Für beitragsorientierte Systeme wird sich die Frage stellen, ob Dienstzeiten nach dem 65. Lebensjahr überhaupt ausgeschlossen werden können. Ein solcher Ausschluss wäre wohl als Altersdiskriminierung unzulässig. Hinzu kommt, dass für den Rechtsanspruch auf Entgeltumwandlung auch nach Vollendung des 65. Lebensjahres zwingend eine Beitragszahlung zugelassen werden muss.
  • Bei dienstzeitabhängigen Zusagen führt die Verlängerung der Lebensarbeitszeit automatisch zu einer Erhöhung der Altersversorgung, da auch die Jahre nach 65 leistungssteigernd zu berücksichtigen sind. Daher wird die Anhebung der Regelaltersgrenze nicht nur beim m/n-tel Quotienten, sondern auch bei der erreichbaren Altersversorgung und damit in vielen Fällen fast „ergebnisneutral“ berücksichtigt.
  • Bei Festrenten führt eine konsequente Anwendung des Urteils zu unbilligen Ergebnissen, da ein unmittelbarer Eingriff in die Äquivalenz von Arbeitsleistung und Versorgung erfolgt: Der Arbeitgeber bekommt für die gleiche Versorgungsleistung 2 Jahre zusätzliche Arbeit, und die Höhe unverfallbarer Anwartschaft reduziert sich, da der Unverfallbarkeitsquotient kleiner wird.
  • Bei versicherungsförmig ausgestalteter bAV gilt zwar der Grundsatz der strikten Trennung zwischen arbeitsrechtlichem Grundverhältnis einerseits und einem ggf. daneben bestehenden Versicherungsvertragsverhältnis, mit der Konsequenz, dass für die Leistungsvoraussetzungen grundsätzlich die arbeitsvertragliche Zusage maßgeblich ist. Gleichwohl wird man dabei das Finanzierungsendalter nicht völlig unberücksichtigt lassen können. Gerade bei einer kongruenten Rückdeckung (z.B. über eine Unterstützungskasse) wird das zwingende Zusammenspiel von Beendigung des Arbeitsverhältnisses und Fälligkeit der finanzierten Leistung deutlich. Der Arbeitgeber will i.d.R. einen Gleichlauf von arbeitsvertraglicher Fälligkeit und Liquiditätszufluss für die Bezahlung der Altersversorgung erreichen. Ein Finanzierungsendalter 65 in der Rückdeckungsversicherung ist daher ein deutliches Indiz dafür, dass die Versorgungsleistung auch zu diesem Zeitpunkt fällig werden soll und gerade keine dynamische Verweisung auf die gesetzliche Rentenversicherung gewollt ist.
  • Pensionskassen sind im Regelfall schon kraft gesetzlicher Verpflichtung gezwungen, auf ein Endalter 67 umzustellen, da nach § 118a VAG nur wegfallendes Erwerbseinkommen abgesichert werden darf.
  • Direktversicherungen kennen seit je her eine flexible Auflösung des Versicherungsvertrages ab Alter 60 auf Verlangen des Arbeitnehmers. In einem solchen Fall kann keine dynamische Verweisung auf die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung unterstellt werden.

 

 

Fazit

 

Die Arbeitgeber sind gut beraten, das BAG-Urteil nicht ungeprüft zu übernehmen, zumal es im Einzelfall durchaus nach wie vor im Interesse der Unternehmen liegen kann, die Mitarbeiter nicht bis zum 67. Lebensjahr zu beschäftigen. Von daher sollte vor allem geprüft werden, ob man nicht durch einen Nachtrag zur Versorgungsordnung klarstellt, welche Altersgrenze künftig bzw. weiterhin gelten soll. Dies muss nicht zwangsläufig die Altersgrenze 67 sein.

 

 

 

Der Autor ist Rechtsanwalt in Köln am Rhein und Associate Partner bei Ries Corportate SolutionsVon ihm erschienen zwischenzeitlich bereits auf LEITERbAV:

 

Judex non calculat? 65 ist nicht zwingend 67!“, 10 Juni 2013.

 

 

Handlungsbedarf in Versorgungsbestimmungen: Erfurt und das Glück der späten Liebe“, 31. März 2016.

 

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