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BGH zu VBL-Startgutschriften für Rentenferne:

Nicht pauschal abziehen!

Der BGH hat im März die Startgutschriftenregelung für rentenferne Versicherte in der Zusatzversorgung der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst erneut als unrechtmäßig eingestuft. Andreas Kasper erläutert Einzelheiten und wirft einen Blick auf die Argumentation des Gerichts.

 

Andreas Kasper. Aon Hewitt.
Andreas Kasper, Aon Hewitt.

In zwei Urteilen vom 9. März 2016 hat der Bundesgerichtshof (BGH) auch die Neuregelung der Startgutschriften zum 31. Dezember 2001 für die sogenannten rentenfernen Versicherten im öffentlichen Dienst, wie sie zum Beispiel in § 79 Abs. 1a der Satzung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBLS) umgesetzt ist, wegen einer „sachwidrigen, gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenden Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der rentenfernen Versicherten“ für unwirksam erklärt (Az. IV ZR 168/ 15 und IV ZR 9/15).

 

Startgutschriften aufgrund des Übergangs auf das Versorgungspunktemodell

 

Das früher für die betriebliche Altersversorgung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes bestehende Gesamtversorgungssystem wurde mit dem Tarifvertrag Altersversorgung (ATV bzw. ATV-K für die kommunalen Beschäftigten) vom 1. März 2002 zum 31. Dezember 2000 geschlossen. Nach einem Übergangsjahr wurde mit dem 1. Januar 2002 das beitragsorientierte Versorgungspunktemodell eingeführt. Zur Wahrung der Besitzstände wurden sogenannte „Startgutschriften“ zum 31. Dezember 2001 ermittelt, deren Berechnung entscheidend davon abhing, ob es sich um einen „rentennahen“ oder einen „rentenfernen“ Versicherten handelte, was sich im wesentlichen danach entschied, ob der Versicherte zum 1. Januar 2001 das 55. Lebensjahr vollendet hatte oder nicht.

 

Für rentennahe Versicherte wurde die Startgutschrift so bestimmt, dass damit im wesentlichen die für eine Altersrente mit Vollendung des 63. Lebensjahres im abgelösten Gesamtversorgungssystem erreichbare Leistungshöhe aufrechterhalten blieb. Für rentenferne Versicherte erfolgte die Startgutschrift nach § 18 Abs. 2 BetrAVG; es wurden also für jedes Jahr einer bestehenden Pflichtversicherung bis zum 31. Dezember 2001 2,25 Prozent einer Voll-Leistung gewährt, die sich ihrerseits zu 91,75 Prozent eines fiktiven Netto-Einkommens abzüglich der – mit dem bekannten „allgemein zulässigen“ Näherungsverfahren ermittelten – Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestimmt (die sog. Versicherungsrente – im wesentlichen 0,03125 Prozent der Summe aller versicherten Entgelte – darf dabei nicht unterschritten werden).

 

Bestehende BGH-Rechtsprechung zu den Startgutschriften

 

Mit Urteil vom 24. September 2008 (Az. IV ZR 134/07) hat der BGH die Startgutschriftsberechnung für rentennahe Versicherte bestätigt. Am 14. November 2007 (Az. IV ZR 74/06) hat er befunden, dass die Startgutschriftsberechnung für rentenferne Versicherte zwar grundsätzlich mit höherrangigem Recht vereinbar sei, aber der Versorgungsprozentsatz von 2,25 Prozent je Versicherungsjahr teilweise gegen Artikel 3 GG verstoße und damit unwirksam sei; die Auswirkungen der ausschließlichen Anwendung des Näherungsverfahrens für die gesetzliche Rente hat er dabei zwar erörtert, aber nicht ausdrücklich beanstandet.

 

Änderungstarifvertrag Nr. 5 vom 30. Mai 2011 zum ATV

 

Mit dieser Tarifeinigung für die rentenfernen Versicherten haben die Tarifvertragspartner auf das BGH-Urteil vom 14. November 2007 reagiert. Den ausschließlichen Ansatz des Näherungsverfahrens haben sie beibehalten. Es findet aber nunmehr gegebenenfalls eine Vergleichsrechnung statt:

 

Es wird ein Unverfallbarkeitsfaktor nach BetrAVG bestimmt durch Bildung des Verhältnisses aus der Zeit vom Beginn der Pflichtversicherung bis zum 31. Dezember 2001 und der Zeit vom Beginn der Pflichtversicherung bis zur Vollendung des 65. Lebensjahrs; der sich so ergebende Vomhundertsatz wird um 7,5 Prozentpunkte vermindert („verminderter Vomhundertsatz“); wenn diese Differenz nicht größer ist als der Versorgungsvomhundertsatz nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 BetrAVG (die 2,25 Prozent je Versicherungsjahr), verbleibt es ohne weiteres bei der bisherigen Startgutschrift; andernfalls findet ein Vergleich der bisherigen Startgutschrift mit einer Versorgungsleistung aufgrund eines individuell erreichbaren Versorgungssatzes (also nicht notwendig 91,75 Prozent Vollversorgung) statt, die mit dem verminderten Vomhundertsatz multipliziert wird; nur falls sich so mehr Versorgungspunkte ergeben als nach der bisherigen Startgutschrift, gibt es einen entsprechenden Zuschlag zur Startgutschrift.

 

Umgesetzt wurde diese Regelung z.B. in § 79 Abs. 1a VBLS, der nunmehr Gegenstand der BGH-Urteile vom 9. März 2016 war.

 

Unwirksamkeit der Neuregelung

 

Auch diese Vergleichsrechnung beseitigt nach dem Urteil des BGH den strukturellen Mangel der Startgutschriftsberechnung für rentenferne Versicherte nicht. Als zentralen Grund hierfür führt der BGH den pauschalen Abzug von 7,5 Prozentpunkten („Differenzschwelle“) zur Ermittlung des verminderten Vomhundertsatzes an. Weil dieser dazu führe, dass für Angehörige des Jahrgangs 1961 und jünger ein Zuschlag nicht zu erreichen sei und auch die „abgrenzbare und zahlenmäßig nicht zu vernachlässigende“ Gruppe der Versicherten der Jahrgänge ab 1948, die mit 25 Jahren oder jünger versichert worden seien, die Differenzschwelle nicht erreichen könne, werde ein wesentlicher Teil der von der bisherigen Startgutschriftsberechnung benachteiligten Versicherten (das sind insbesondere solche mit längeren Ausbildungszeiten) durch die Neuregelung gar nicht erfasst. Dass die Neuregelung unter legitimen Zweckmäßigkeits- oder Vereinfachungsgesichtspunkten dennoch rechtmäßig sein könnte, wird unter Verweis auf die vorliegend schon notwendigen weiteren Rechenschritte und Vergleichsbetrachtungen verworfen.

 

Bedenken betreffend die Anwendbarkeit des Näherungsverfahrens für die gesetzliche Rente werden, da vorliegend „nicht entscheidungserheblich“, wiederum nicht weiter verfolgt.

 

Die Forderung eines rentenfernen Versicherten, dass seine Startgutschrift auch nach den Vorschriften für rentennahe Versicherte berechnet werden müsse, hat der BGH allerdings zurückgewiesen. Den rentennahen Versicherten solle „ein über den Schutz des erdienten Teilbetrages hinausgehender Besitzstand gesichert werden“, was als „Ausdruck eines erhöhten Vertrauensschutzes“ die Ungleichbehandlung gegenüber rentenfernen Versicherten rechtfertige.

 

Folgen

 

Die Tarifvertragsparteien im öffentlichen Dienst müssen bei der Startgutschriftsberechnung für rentenferne Versicherte nochmals nachbessern. Ob eine schlichte Absenkung der derzeitigen Differenzschwelle von 7,5 Prozentpunkten auf einen niedrigeren Satz ausreichen wird, erscheint angesichts der Argumentationslinien des Gerichts fraglich.

 

Der Autor ist Aktuar bei Aon Hewitt in München.

 

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