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LVRG zu Bewertungsreserven – keine 72 Stunden:

Last Exit Ausschüttungssperre

 

Letzte Woche hat das Bundesministerium der Finanzen äußerst kurzfristig einen Referentenentwurf zu VAG, VVG und sieben Verordnungen vorgelegt, der nicht nur an den Grundfesten der deutschen Assekuranz rüttelt, sondern ebenso Wirkung auf die bAV haben kann – wenn auch Einzelheiten unklar sind.

 

Berlin, letzten Dienstag, den 27. Mai 2014, gegen Mittag: Die betroffenen Verbände in der Hauptstadt erhalten vom BMF den Referentenentwurf des „Gesetzes zur Absicherung stabiler und fairer Leistungen für Lebensversicherte“ (kurz Lebensversicherungsreformgesetz – LVRG). Kommentierungsfrist keine 72 Stunden: nämlich bis zum darauf folgenden Freitag, dem 30. Mai, also dem Brückentag, um 9 Uhr 30 morgens. Dazwischen Christi Himmelfahrt.

 

Mit dieser plötzlichen Kurzfristigkeit – die das BMF gegenüber Leiter-bAV.de nicht kommentieren wollte – hatte wohl kaum einer gerechnet, und mit diesem Ergebnis wohl auch nicht: Laut Referentenentwurf will das BMF eine Nicht-Beteiligung der Versicherungsnehmer an den Bewertungsreserven an eine Ausschüttungssperre des jeweiligen Versicherers knüpfen. Demzufolge könnten nur Versicherer, die praktisch offiziell als im Krisenmodus befindlich deklariert sind – die also das Tabu der Versicherungsbranche schlechthin brechen – die Beteiligung der Versicherungsnehmer an Bewertungsreserven verweigern.

 

Das erstaunt bass. Denn eigentlich mussten sich die Versicherer auf einem guten Weg gesehen haben, um in der Frage der Ausschüttung der Bewertungsreserven mehr oder weniger zu dem Stand von vor 2008 zurückkehren zu können. Schließlich war erst Ende 2012 die seinerzeitige, schwarz-gelbe Bundesregierung mit einem entsprechenden Vorstoß nur im Bundesrat gescheitert, und in den Zeiten der großen Koalition kommen Dinge, die einst blockiert waren, erfahrungsgemäß fix ins Rollen.

 

Auch hatte die Branche stets die deutsche Aufsicht an ihrer Seite, die noch in ihrem just vorgelegten Jahresbericht schreibt:

 

Die BaFin hält unverändert eine Korrektur der Regelung für erforderlich.“

 

 

Bundesbank warnt vor Eigenmittelmangel

 

Das BMF glaubt offenbar, handfeste Gründe für sein überraschend rigoroses Vorgehen zu haben. So heißt es in der Begründung:

 

Das bestehende lang anhaltende Niedrigzinsumfeld bedroht mittel- bis langfristig die Fähigkeit der privaten Lebensversicherungsunternehmen, die den Versicherten zugesagten Zinsgarantien zu erbringen.“

 

und weiter:

 

In einem Stressszenario der Deutschen Bundesbank mit einem langanhaltenden Niedrigzinsumfeld würde bis zum Jahr 2023 mehr als ein Drittel der deutschen Lebensversicherer die regulatorischen Eigenmittelanforderungen nach den bislang gültigen Solvabilitätsvorschriften (Solvabilität I) nicht mehr erfüllen. Unter den ab voraussichtlich 2016 anzuwenden Solvabilitätsvorschriften (Solvabilität II) erwartet die Bundesbank tendenziell noch schlechtere Ergebnisse.“

 

Am Rande sei vermerkt, dass bei den drei letztjährigen Stresstests der BaFin kein Lebensversicherer die Anforderungen der dort zugrunde liegenden Szenarien nicht bewältigt hat.

 

Doch als wäre die Notwendigkeit, sich im Krisenmodus zu befinden, um nicht an den Bewertungsreserven beteiligen zu müssen, noch nicht genug, sollen laut Gesetzesentwurf auch noch die Mindestzuführungsverordnung verschärft (Beteiligung an den Risikogewinnen zu 90 statt wie bisher zu 75 Prozent), die bilanziell ansetzbare (nicht die tatsächliche) Höhe der Provisionen auf 25 statt wie bisher 40 Promille gedeckelt und auch die Offenlegungspflichten der Abschlusskosten erweitert werden. On top gibt es die Absenkung des Höchstrechnungszinses auf 1,25 Prozent.

 

Die Bundesregierung will den Entwurf schon am morgigen 4. Juni durchs Kabinett und wohl noch vor der Sommerpause durch den Bundestag bringen.

 

 

aba: „Fachlich fundierte Stellungnahme unmöglich“

 

Angesichts der faktisch nicht handhabbaren Kurzfristigkeit der Kommentierungsfrist fallen die Stellungnahmen der Verbände gegenüber dem BMF übersichtlich aus.

 

Die aba ließ das BMF in kürzester Form wissen, dass „die äußerst knappe Fristsetzung uns als bundesweiter Fachverband für alle Fragen der bAV eine fachlich fundierte Stellungnahme unmöglich macht.“ Die Arbeitsgemeinschaft verwies nur kurz darauf, dass Pensionskassen, Pensionsfonds und vor allem die Direktversicherung betroffen sein werden, die Regelungen zu Rechnungszins und Abschlusskosten frühestens zum 1. Juli 2015 erfolgen sollten und man sich es im übrigen vorbehalte, im Laufe des weiteren Gesetzgebungsverfahrens eine ausführlichere Stellungnahme abzugeben.

 

 

GDV: Nicht unmittelbar vor Solvency II

 

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft lässt kaum ein gutes Haar an dem Entwurf.

Man kritisiert nicht nur die geplante Offenlegung der Abschlussprovisionen, die vorgesehene Erhöhung der Mindestbeteiligung am Risikoüberschuss und die beabsichtigte Absenkung des Höchstzillmersatzes (nicht zuletzt ebenfalls wegen des zu kurzen Zeitfensters). Auch die Absenkung des Höchstrechnungszinses zum 1. Januar 2015 hält man für technisch nicht umsetzbar und kurz vor der Scharfschaltung von Solvency II auch für unklug:

 

Es ist nicht sinnvoll, unmittelbar vor dem Inkrafttreten von Solvency II neue Tarifgenerationen einzuführen. Eine Rechnungszinssenkung erfordert eine vollständige Neukalkulation betroffener Tarife und eine weitgehende Anpassung der Angebots- und Bestandsführungssysteme. Eine Anpassung zum 1. Januar 2015 hätte in Verbindung mit den durch Solvency II ausgelösten Umstellungen enorme, nicht zu bewältigende Mehrfachbelastungen zur Folge. Gleichzeitig sollte diese unnötige Kostenbelastung der Kunden vermieden werden. Eine Absenkung des Rechnungszinses kann vor diesem Hintergrund erst zum 1. Januar 2016 erfolgen.“

 

Im Kern der GDV-Kritik steht jedoch auch die Frage der Ausschüttungssperre, ebenfalls nicht zuletzt in Zusammenhang mit Solvency II:

 

Mit der Verhängung der Ausschüttungssperre besteht für Unternehmen faktisch keine Möglichkeit mehr, neues Kapital aufzunehmen. Dies ist mit Blick auf die nach Solvency II geforderte Stärkung der Eigenmittelausstattung absolut kontraproduktiv. Auch die im Paragraf 81b Abs. 2 VAG vorgesehene Möglichkeit, seitens der Aufsicht eine kurzfristige Beschaffung der erforderlichen Eigenmittel zu verlangen, würde damit ins Leere laufen.“

 

Sorge jedoch auch um den Tabubruch:

 

Die Einführung einer Ausschüttungssperre stigmatisiert die gesamte Versicherungswirtschaft und wird von anderen Märkten als Signal für eine sich verschlechternde Ertragskraft gedeutet. Der Versicherungsstandort Deutschland wäre dadurch nachhaltig geschwächt.“

 

Es sei hier angemerkt, dass natürlich in erster Linie Unternehmen, die einer Ausschüttungssperre unterliegen, stigmatisiert sind, wohl auch von jeglichem Neugeschäft abschnitten werden, und dass sich damit ihr Dilemma nur noch verschlimmert. Insofern muss man die realite Anwendbarkeit der Regelung durchaus in Frage stellen.

 

 

BDA: „Höhere Mindestbeteiligung an Risikogewinnen beeinträchtigt Stabilität der bAV“

 

Kurz und knapp – doch partiell mit einem dem der Versicherer diametral entgegensetzten Interesse – äußern sich auch die Arbeitgeber. Die Absicht, die Risikotragfähigkeit der Versicherer zu verbessern, findet man zwar richtig, zu berücksichtigen sei „jedoch, dass von der geplanten Änderung der Beteiligung an den Bewertungsreserven auch Arbeitgeber mit rückgedeckten betrieblichen Versorgungszusagen betroffen sind, da für sie – je nach Versorgungszeitpunkt – der Finanzierungsaufwand unerwartet steigen kann.“ Deshalb solle geprüft werden, wie trotz des gesetzgeberischen Ziels vermieden werden kann, dass Arbeitgeber kurzfristig mehr als erwartet ihre rückgedeckten Versorgungszusagen nachfinanzieren müssen, so die BDA.

 

Ergo: Anders als die Versicherer, die gerade ein Interesse daran haben, ausscheidende Versicherungsnehmer gerade so wenig wie möglich an den Reserven zu beteiligen, befürchten die Arbeitgeber gerade in diesem Fall erhöhten Finanzierungsaufwand.

 

Des weiteren bemängelt die BDA, dass die geplanten Änderungen zum Teil auch auf EbAV wirken können, „ohne dabei deren Besonderheiten zu berücksichtigen“. Hier bestehe Korrekturbedarf.

Auch in der Frage der Risikogewinne ist die BDA dann wieder mit dem GDV d'accord:

 

Die auch für Pensionsfonds vorgesehene Anhebung der Mindestbeteiligung der Versicherten an Risikogewinnen von 75 auf 90 Prozent schadet der Stabilität der bAV. Denn damit wird wichtiger Spielraum genommen, um Reserven zur Einhaltung der gesetzlichen Solvabilitätsvorgaben zu bilden und Ertragsschwankungen auszugleichen. Gerade bei der bAV besteht die Gefahr, dass vorübergehende Risikogewinne nicht von Dauer sind, weil die Versichertenkollektive hier oftmals nur klein sind und oftmals sogar nur aus Arbeitnehmern eines Unternehmens bestehen. Hier können sich Risikogewinne schnell in Risikoverluste umwandeln, zum Beispiel wenn eine bAV, bei der bislang überwiegend männliche Beschäftigte Mitglied waren, später mehr Frauen mit ihrer meist längeren Lebenserwartung gewährt wurde.“

 

 

Pensionskassen: 12,5 Milliarden stille Reserven

 

Zu den Größenordnungen: Betreffend die Pensionskassen schreibt die BaFin in ihrem erwähnten Jahresbericht:

 

Aufgrund des niedrigen Zinsniveaus weist die Branche weiterhin hohe Bewertungsreserven insbesondere in Zinstiteln auf. In allen Kapitalanlagen hatten die Pensionskassen zum Jahresende nach den vorläufigen Angaben stille Reserven in Höhe von circa 12,5 Milliarden Euro (Vorjahr: 16,7 Milliarden Euro). Dies entspricht circa 9,5 Prozent der gesamten Kapitalanlagen, nach 13,5 Prozent im Vorjahr.“

 

Weitere Größenordnungen und Hintergründe zur Problematik der Bewertungsreserven in Bezug auf die Gesamtheit der Versicherer finden sich ebenda:

 

Die derzeitigen Regelungen zur Beteiligung der Versicherungsnehmer an den Bewertungsreserven (der festverzinslichen Wertpapiere) bewirken, dass Versicherer im gegenwärtigen Niedrigzinsumfeld besonders hohe Beträge an die ausscheidenden Kunden ausschütten müssen. Ursächlich dafür sind die stillen Reserven aus festverzinslichen Wertpapieren, die aufgrund rückläufiger Kapitalmarktzinsen von 3 Milliarden Euro Anfang des Jahres 2011 auf fast 90 Milliarden Euro Ende 2012 gestiegen sind. Im Jahr 2012 haben die ausgeschiedenen Versicherungsnehmer daher fast 3 Milliarden Euro zusätzlich ausgezahlt bekommen. Für das Berichtsjahr ist erneut ein Auszahlungsbetrag in dieser Größenordnung zu erwarten. Der sehr viel größeren verbleibenden Versichertengemeinschaft gehen so überproportional Mittel verloren, so dass die Überschussbeteiligung dieser Gruppe stärker reduziert wird. Kunden, deren Vertrag noch lange läuft, haben von den aktuell hohen Bewertungsreserven aus festverzinslichen Wertpapieren nichts, weil sie sich mittel- bis langfristig wieder auflösen. Dieser Nachteil der geltenden gesetzlichen Regelung zur Beteiligung an den Bewertungsreserven ist bekannt.“

 

Nun, ob die verbleibenden Kunden wirklich nichts davon haben, darüber kann man geteilter Meinung sein. Schließlich bedeuten Bewertungsreserven, auch wenn sie sich zum Ende hin sukzessive auflösen, dass der Investor – in dem Fall die verbleibenden Kunden – während der gesamten Restlaufzeit – gleichbleibenden Zins vorausgesetzt – von einem Return profitieren, der über dem am Markt certeris paribus erzielbaren liegt (denn sonst würden die Papiere ja keine Bewertungsreserven aufweisen). Kritisch zu würdigen ist übrigens auch das gelegentlich vorgebrachte Argument, dass die Beteiligung an den Bewertungsreserven die Versicherer absurderweise zwänge, Papiere mit hohen Renditen zu verkaufen und die Mittel dann niedrigverzinster anlegen müssten. Denn zu verkaufen sind ja lediglich Papiere immer genau in der Menge, die gerade notwendig ist und ausreicht, um den ausscheidenden Versicherungsnehmern ihren Anteil an den Reserven zu verschaffen. Das dürfte auch erklären, warum von 90 Milliarden Euro an Ende 2012 aufgelaufenen Bewertungsreserven gerade einmal 3,33 Prozent in jenem Jahr ausgeschüttet werden mussten.

 

 

Erfüllungsaufwand 4.018.189,09 Euro

 

Übrigens hat das BMF den mit den gesetzgeberischen Maßnahmen einhergehenden Aufwand bemerkenswerterweise schon centgenau ermitteln können. Im Referentenentwurf heißt es:

 

Insgesamt beträgt der Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft circa 5.195.394,43 Euro, davon 4.018.189,09 Euro Vorgaben zum Erfüllungsaufwand im engeren Sinne und 1.177.205,34 Euro aus Informationspflichten.“

 

Warum das Ministerium dort noch das Wort „circa“ nutzt, entzieht sich der Kenntnis der Redaktion.

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