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Münchener Gedanken:

Katastrophe ante portas?

Der BFH hat in einem Urteil jüngst nicht nur die Besteuerung von Pensionskassenleistungen im Gegensatz zur Vorinstanz restriktiver gefasst, sondern in einem Nebensatz eine Grundsatzfrage gestellt. Auf dem Parkett erntet das Gericht vor allem eines: Unverständnis.

 

 

Es ging dieser Tage bereits durch einige Online-Fachmedien, sogar die FAZ hat es in ihrer jüngsten Samstagsausgabe aufgegriffen (und es ist auch auf LEITERbAV verlinkt, rechte Spalte unter den „Behörden“): Unter dem Az X R 23/15 hat der Bundesfinanzhof am 20. September 2016 geurteilt, dass ein Betriebsrentner für vertragsgemäße Kapitalauszahlungen durch Pensionskassen steuerlich keine Fünftelungsregelung in Anspruch nehmen kann (die Vorinstanz hatte anders entschieden, hier in einer Presseschau vom Mai 2015 vermeldet).

 

Im Einzelnen entschied der BFH: Die einmalige Kapitalabfindung laufender Ansprüche gegen eine Pensionskasse führt nicht zu ermäßigt zu besteuernden außerordentlichen Einkünften nach § 34 EStG, wenn das Kapitalwahlrecht schon in der ursprünglichen Versorgungsregelung enthalten war. Solche Einkünfte, die nach § 3.63 EStG gefördert wurden, unterliegen dem regulären Einkommensteuertarif. Denn die Anwendung der Steuerermäßigung des 34 EStG setzt stets voraus, dass die begünstigten Einkünfte als „außerordentlich“ anzusehen sind. Die Zusammenballung von Einkünften darf daher nicht dem vertragsgemäßen oder typischen Ablauf der jeweiligen Einkunftserzielung entsprechen. Vorliegend war die Zahlung der Kapitalabfindung aber nicht atypisch, sondern vertragsgemäß, weil den Versicherten schon im ursprünglichen Vertrag ein entsprechendes Wahlrecht eingeräumt worden war.

 

Soweit so schlecht, doch vertretbar. Doch aufhorchen lassen muss ein Nebensatz in der Kommunikation des BFH, den das Gericht verlauten ließ:

 

Ohne dass dies im Streitfall entscheidungserheblich war, hat der BFH Zweifel geäußert, ob Verträge, die von Anfang an ein Kapitalwahlrecht vorsehen, überhaupt nach § 3 Nr. 63 EStG in seiner ab 1. Januar 2005 geltenden Fassung durch Steuerbefreiung der entsprechenden Einzahlungen gefördert werden können.“

 

 

Gegen die herrschende Meinung

 

Nicolas Roessler. Mayer Brown LLP.
Mayer Brown LLP.

Nicolas Roessler, Partner bei Mayer Brown LLP, zeigt sich von der Aussage des BFH „irritiert“, vor allem weil die allgemeine Verwaltungsauffassung FN1) wie auch die herrschende Literaturmeinung FN2) an der Steuerbefreiung keine Zweifel haben. „Die Steuerfreiheit entfällt in der Beitragsphase erst dann, wenn der Steuerpflichtige sein Kapitalwahlrecht tatsächlich ausübt“, so Roessler zu LEITERbAV. Der BFH stütze seine Zweifel auf den Wortlaut des 3.63 EStG, da dieser neben der Rente oder dem qualifizierten Auszahlungsplan gerade kein Kapitalwahlrecht vorsieht. „Jedoch bringen die Gesetzesmaterialien den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass allein die Möglichkeit, anstelle der lebenslangen Altersversorgungsleistung eine Kapitalauszahlung zu wählen, die Steuerfreiheit nicht gefährdet“ FN3). Mit den nunmehr geäußerten Zweifeln scheine der BFH mit der allgemeinen Auffassung brechen zu wollen.

 

 

Kasse oder Fonds oder was denn nun?

 

Rita Reichenbach. Mercer.
Mercer.

Scharfe Kritik kommt von Mercer. Auch für Rita Reichenbach, Head of Legal and Tax Consulting des Beraters in Deutschland, kommt das BFH-Statement überraschend, und sie stellt die Frage nach der Motivation des Gerichtshofs. Hier sieht sie zwei Möglichkeiten: „Will der BFH damit andeuten, dass er das bisherige Verständnis von der Besteuerung kippen möchte? Oder hat er eventuell gar nicht so genau hingesehen? Für Letzteres könnte sprechen, dass er im Urteil mal von Pensionskasse und mal von Pensionsfonds spricht.“

 

Nun, da weiß man ja gar nicht, welche der beiden Varianten man schlimmer finden soll. Jedenfalls verweist auch Reichenbach auf die behördliche Praxis: „Nach Auffassung der Finanzverwaltung und somit dem allgemein herrschenden bisherigen Verständnis kommt es darauf an, ob ausschließlich eine Kapitalzahlung erbracht wird oder ob es sich nur um ein Kapitalwahlrecht handelt“.

 

Wie Rössler verweist auch Reichenbach auf das BMF-Schreiben vom 24. Juli 2013. Dort ist in der Randnummer 312 das erläutert, was unstrittige Verwaltungspraxis ist:

 

Allein die Möglichkeit, anstelle dieser Auszahlungsformen eine Einmalkapitalauszahlung (100% des zu Beginn der Auszahlungsphase zur Verfügung stehenden Kapitals) zu wählen, steht der Steuerfreiheit noch nicht entgegen. […] Entscheidet sich der Arbeitnehmer zugunsten einer Einmalkapitalauszahlung, so sind von diesem Zeitpunkt an die Voraussetzungen des § 3 Nr. 63 EStG nicht mehr erfüllt und die Beitragsleistungen zu besteuern. Erfolgt die Ausübung des Wahlrechtes innerhalb des letzten Jahres vor dem altersbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, so ist es aus Vereinfachungsgründen nicht zu beanstanden, wenn die Beitragsleistungen weiterhin nach § 3 Nr. 63 EStG steuerfrei belassen werden.“

 

Sähe der BFH das anders, verträte er damit eine restriktivere Auffassung als die Finanzverwaltung selbst, so Reichenbach.

 

 

Im Zweifel rückwirkend?

 

Für die Praxis sieht Roessler Risiken: „Die geäußerten Zweifel des BFH scheinen grundsätzlicher Natur zu sein.“ Möglicherweise könnten derartige Beitragszahlungen nicht mehr im Sinne des 3.63 EStG als steuerbefreit zu qualifizieren sein. Ähnlich sieht es Markus Ernst, der im Zweifel rät, auf Nummer sicher zu gehen: „Auch wenn die Aussagen des BFH derzeit noch unverbindlich sind: Für Neuverträge wird man darüber nachdenken müssen, ob auf die Möglichkeit eines Kapitalwahlrechts nicht besser verzichtet werden sollte“, so der Rechtsanwalt bei Allen & Overy LLP zu LEITERbAV.

 

Thomas Hagemann. Mercer. Foto: Tim Wegner
Mercer.
Foto: Tim Wegner

Thomas Hagemann, fragt sich, ob der BFH die sich ergebenden Gelegenheiten nutzen will, die Besteuerung von Kapitalzahlungen neu zu definieren. Für diese Tendenz sprächen zum Beispiel seine früheren Urteile zur Nichtanwendbarkeit der Fünftelungsregelung FN 4). Sollte dies der Fall sein, wäre das für Mercers Chefaktuar nicht weniger als „katastrophal“. Denn: Unzählige Versorgungszusagen über Direktversicherungen, Pensionskassen und Pensionsfonds sehen ein Kapitalwahlrecht vor. Folge, so Hagemann: „Sollte der BFH die Steuerfreiheit der Beiträge im Sinne des 3.63 für diesen Fall kippen, käme es vermutlich nicht nur zum Verlust der Steuerfreiheit für künftige, sondern auch zur nachträglichen Versteuerung der bereits geleisteten Beiträge. Was das für die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber bedeutet, kann man sich vorstellen.“

 

Nicht zuletzt die politische Implikation: Auf LbAV wurde jüngst erst die Rechtsprechung des Dritten Senats des BAG kommentiert, der ungeachtet seiner Funktion als höchstes Gericht zuweilen dazu neige, sich an dem genauen Wortlaut des Gesetzes festzuhalten und dabei möglicherweise das große Ganze und den Willen des Gesetzgebers aus den Augen zu verlieren – und das in Zeiten, in denen die Politik sich an die ohnehin schwierige Herkulesaufgabe einer dringenden bAV-Reform macht. Sieht danach aus, als habe diese dabei nicht nur mit Störfeuer aus Erfurt, sondern auch aus München zu rechnen.

 

Das Urteil des BFH findet sich hier.

 

 

 

 

Fußnoten:

FN1: BMF Schreiben vom 24.07.2013, BStBl. I 2013 S. 1022, Rz. 312.

FN 2: Bergkemper in H/H/R § 3 Nr. 63, Rn. 5, m.V.a. § 3 Nr. 56, Rn. 5; Levedag in Schmidt, § 3, Rn. 211; Stickan in L/B/P § 3, Rn. 2644; von Beckerath in Kirchhof § 3, Rn. 164; Wellisch/Näth BB 2005, 18 (19).

FN 3: BT Drs. 15/2150 v. 09.12.2003, S. 32.

FN 4: Urteil vom 31.08.2016, VI R 53/14 bei Versorgungsleistungen, die durch sukzessive Bonusverzichte finanziert wurden, und Urteil vom 20.09.2016, X R 23/15 bei einer Rentenzusage, die dem Arbeitnehmer von Anfang an ein Kapitalwahlrecht einräumt.

 

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