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bAV-HB-Tagung (IV) – Im „Tal der Tränen“:

IAS 19 – Dauerbaustelle der Rechnungslegung?

 

Der prinzipienorientierte Rechnungslegungsstandard IAS 19 lässt Raum für Interpretationen, die materielle Auswirkungen haben können. Martin Schloemer von der Bayer AG und Mitglied im IFRS IC, gab der Branche jüngst ein Update.

 

 

Nach dem Vortrag von Martin Schloemer, Leiter Accounting Principles der Bayer AG, bei der „16. Handelsblatt Jahrestagung bAV“ muss man weiter davon ausgehen, dass die Branche in Sachen IAS 19 in der Praxis noch lange Jahre mit „Interpretationsspielräumen“ leben muss. Dazu zählen insbesondere die Ermittlung des Rechnungslegungszinses zur Abzinsung von Pensionsverpflichtungen wie auch Lösungen zu Pensionsplänen mit Mindestgarantieversprechen zuzüglich dem Anrecht auf Überschussbeteiligungen aus einem Anlagenportfolio.

 

Martin Schloemer, Bayer AG, auf seinem Vortrag. Foto: EUROFORUM Dietmar Gust.
Martin Schloemer, Bayer AG, auf seinem Vortrag.
Foto: EUROFORUM Dietmar Gust.

Anders als nach deutschem Bilanzrecht wird nach IAS 19 kein fester Zinssatz als verbindlicher Maßstab vorgegeben, sondern vielmehr eine Orientierungslinie gegeben: Der durchschnittliche Zinssatz für erstrangige Unternehmensanleihen,“ erläutert Schloemer eingangs die Thematik. Eine der weiterhin gravierendsten „ungeklärten Fragen“ bleibt dabei die exakte Ableitung des „Diskontierungszinses“ und hierbei vor allem die Definition von „erstrangigen“ (high quality) Anleihen.

 

Laut Schloemer hat sich die seit Jahren angewendete „Konvention“ verfestigt, dass die von großen Ratingagenturen mit AA und AAA gerateten Anleihen akzeptabel sind, obwohl es „so nicht in der Entscheidung steht“, die das IFRS Interpretation Committee (IFRS IC), in dem Schloemer auch selbst Mitglied ist, im November 2013 gefällt hatte.

 

 

Stetige Gefangenschaft

 

Dabei hat sich das IFRS IC um die eigentliche Entscheidung gedrückt, und verlautbart, dass das bisherige Verständnis der bilanzierenden Unternehmen über das, was high quality bedeutet, „weiter“ stetig anzuwenden ist. Darauf hat auch die ESMA, die als europäische Börsenaufsicht Impulse für die Prüfung der Bilanzen der Unternehmen geben kann, ein besonderes Augenmerk gelegt.

 

Diese Auffassung hat Folgen, denn: „Damit sind Unternehmen, die einmal auf AA abgestellt haben, offenbar für die Zukunft gefangen,“ kommentierte ein Marktteilnehmer. Anderes gilt möglicherweise für neue Player. So stellt sich für Bayer-Bilanzexperten Schloemer durch oben genannte Formulierung die Frage, ob Unternehmen, die neu auf den Markt kommen und dadurch keine „stetige Anwendung“ vorzuweisen haben, unter Umständen das Universum zur Diskontsatzberechnung auf Investment Grade ausdehnen könnten.

 

Die Rechnungsleger der Industrie hatten sich hier eigentlich eine Änderung der gelebten Konvention dahingehend erhofft, dass eine Verbreiterung des Ableitungsuniversums eine stabilere Basis für die Ableitung des Rechnungszins ermöglicht, aber auch „Wirtschaftsprüfer trauen sich derzeit nichts Anderes zu akzeptieren“, bestätigte ein Vertreter eines deutschen Großkonzerns im Pausen-Gespräch mit LbAV.

 

Schloemer selbst hätte sich gewünscht, dass bei den Auswahlkriterien mehr auf Ausfallraten abgezielt worden wäre oder es eine tatsächliche Ratingvorgabe gegeben hätte. Dass ein unabhängiger Standarsetter wie das IASB sich jedoch nicht von Ratingagenturen abhängig machen möchte, sei im politischen Umfeld verständlich, so Schloemer weiter.

 

Aber auch im AAA/AA Anleihe-Universum sei weiterhin nicht eindeutig, wie man mit Unternehmensanleihen umgehen soll, die eine Staatsgarantie haben – wie beispielsweise Anleihen der KfW. Schloemer wies darauf hin, dass man solche Papiere eigentlich als Staatsanleihen einstufen müsste, die dann laut den internationalen Rechnungslegungsstandards IFRS nicht zur Ermittlung des Diskontierungssatzes herangezogen werden können.

 

 

Keine absolute Vergleichbarkeit von Unternehmen“

 

Selbst ohne diese Spezialfragen kann jedoch unter den derzeit geltenden Regelungen „die Höhe des Zinssatzes – je nach Methodik – bei gleichem Bonduniversum variieren“, erläuterte Schloemer weiter. Damit liege „keine absolute Vergleichbarkeit von Unternehmen mit gleicher Struktur der Verpflichtung“ vor. Die Unterschiede entstehen durch abweichende Annahmen in den Extrapolationen der Zinsstrukturkurve, die Anwendung individueller Regressionsmethoden oder die individuelle Berechnungen zum „Ersatzzins“ versus der Nutzung der Duration der Zahlungsströme. Doch gab Schloemer zu bedenken, dass auch nach HGB, in dem ein siebenjähriger, geglätteter Durchschnittszins zur Anwendung kommt, Firmen „langsam ins Tal der Tränen“ kommen und vor allem kleine Unternehmen Mühe haben, die entstehende Lücke zu schließen.

 

Christian Rouette, Head of Pension Finance und Asset Strategy der E.ON SE, kommentierte in diesem Zusammenhang am Rande der Veranstaltung gegenüber LbAV: „Es ist natürlich enttäuschend, dass der Standardsetter und die Wirtschaftsprüfer sich einer sachlichen Verbreiterung des Anlageuniversums zum Beispiel um A-Bonds verweigern und dies im Ergebnis dazu führt, dass Freiheitsgrade bei den individuellen Ableitungsmethoden nun zu so unterschiedlichen Ergebnissen führen. Wünschenswert wäre die Entwicklung einer gemeinsamen ‚best practice‘ der Unternehmen“.

 

Schloemer hielt fest, dass eine Art freiwilliger „einheitlicher“ Ermittlungskodex für den Zinssatz nach IAS „wegen der großen Sensitivitäten wünschenswert“ sei, um die Unternehmen vergleichbar zu machen. Für einen DAX-Konzern mit entsprechenden Pensionsverpflichtungen sei bei einer Zinsdifferenz von 0,5 Prozentpunkten eine Auswirkung auf das Eigenkapital von mehr als einer Milliarde Euro nicht ungewöhnlich respektive ein Unterschied von 0,2 Prozent bei sonst gleichen Voraussetzungen je nach Ermittlungsverfahren.

 

Auch sei es aus der Perspektive von Pensionsverantwortlichen schwer verständlich, dass nach IAS 19 der gleiche Zinssatz für die Abzinsung der Verpflichtung als auch für die erwarteten Planerträge zu nutzen ist. Dieser „Nettozinsansatz“ führt dazu, dass eine gute Anlageperformance des Pensionsfondsmanagers keine Auswirkungen auf die GuV hat, erläutert Schloemer.

 

Dass sich hier bald etwas ändert ist jedoch nicht abzusehen, denn zunächst müsse das IASB davon überzeugt werden, die Probleme „mit hoher Priorität“ anzugehen. Dazu rät Schloemer, die Themen bei der nächsten Agenda-Konsultation des IASB Ende 2015 einzubringen. Vor 2020 seien jedoch keine umfassenden Änderungen zu erwarten, da der „Überarbeitungsprozess langwierig ist“. Zwischendurch werden nur kleinere Anpassungen vorgenommen werden, so wie die Umsetzung der Entscheidung des IFRS IC vom Juli 2013 zur notwendigen Markttiefe.

 

Das IASB hat im September 2014 infolgedessen festgelegt, dass „für die Ermittlung des Zinssatzes nicht zwangsläufig weltweit alle Anleihen der gleichen Währung einbezogen werden“ müssen, sofern ein liquider Markt vorliegt. Diese Bestimmung findet für Geschäftsjahre, die am 1. Januar 2016 beginnen, erstmals Anwendung.

 

 

Als „zu schwierig“ von der Agenda gestrichen

 

Das niedrige Zinsniveau verlangt nach neuen Mechanismen, um die Risiken für Unternehmen aus Pensionszusagen zu begrenzen, aber gleichzeitig den Mitarbeitern attraktive Ertragschancen zu belassen. Für Pensionspläne mit Mindestgarantieversprechen zuzüglich dem Anrecht auf Überschussbeteiligungen aus einem Anlagenportfolio und andere „hybride“ Pensionszusagen gebe es derzeit keine hundertprozentig passenden Regeln, gibt Schloemer zu bedenken. „Wegen der Schwierigkeiten, die in der fortschreitenden Bearbeitung des Themas aufgetaucht sind, hat das Interpretationskomitee entschieden, das Projekt von der Agenda zu streichen,“ so die Begründung des IFRS IC vom Mai 2014, warum nicht länger über die Frage der Bilanzierung hybrider Pensionspläne diskutiert wird. „Das ist damit eine weitere Agenda Decision zum IAS 19, die wegen zu großer Komplexität beendet wird,“ kommentierte ein Konferenzteilnehmer.

 

Der Ball wurde dabei dem IASB zugespielt, das ein Forschungsprojekt zum Thema Pensionszusagen laufen hat, und das IFRS IC würde bei diesen Untersuchungen „Fortschritte begrüßen“. Schloemer konkretisierte die Problematik weiter und hielt fest, dass „unterschiedliche Erfüllungsrisiken von Planversprechen“ in der derzeitigen Rechnungslegung, die nur zwischen beitrags- und leistungsorientierten Plänen unterscheidet, „nicht direkt sichtbar werden“. Außerdem sollte über eine weitere Typisierung der Anhangangaben nachgedacht werden. Analysten schätzten es sicherlich, Pläne mit einem sehr geringen oder limitierten Erfüllungsrisiko für Unternehmen von Plänen mit deutlich höheren Risiken auch quantitativ unterscheiden zu können.

 

 

Planänderung: Vollständige versicherungsmathematische Neubewertung der Pensionsverpflichtung

 

Für das zweite Halbjahr hat das IASB einen sogenannten „Exposure Draft“ angekündigt, also einen Entwurf zur konkreten Anpassung von Standards, in diesem Fall IAS 19 und IFRIC 14 unter dem Titel:

 

Remeasurement at a plan amendment, curtailment or settlement / Availability of a refund of a surplus from a defined benefit plan“.

 

Damit wird einerseits bei einer Planänderung beziehungsweise Kürzung in einem Geschäftsjahr eine „vollständige versicherungsmathematische Neubewertung der Pensionsverpflichtung inklusive aller Parameter“ (wie Fluktuation, Mortalität oder Diskontierungszins) im laufenden Jahr „voraussichtlich zukünftig verpflichtend“, so Schloemer. Er stellte klar, dass für ähnliche Pläne keine Anpassungen der versicherungstechischen Annahmen erlaubt würden, auch wenn aus den Neuberechnungen bessere Erkenntnisse gewonnen worden sind.

 

Die zweite Änderung, die im Raum steht, ist die Umsetzung der vorläufigen Entscheidung des IFRS IC vom September 2014, dass „Überschüsse des Planvermögens nicht als Vermögenswert erfasst werden dürfen, wenn der Treuhänder eigenständig über die Verwendung entscheiden kann“. In beiden Fällen rief der zur Kommentierung auf, sofern der Entwurf auf Kritik stoße.

 

Insgesamt gäbe es also genug Klärungsbedarf in Sachen Pensionsbilanzierung, aber wie es aussieht, werden in den nächsten Jahren nur kleinere Baustellen geflickt. Die große Überarbeitung wird wieder einige Zeit auf sich warten lassen. Ein Konferenzteilnehmer resümiert: „Die IFRS sollen eine prinzipienorientierte Rechnungslegung darstellen. Gut, doch wären nun pragmatische Entscheidungen geboten, da die Prinzipien aus einer Zeit stammen, in der die heutigen Pensionsdesigns und vor allem die heutigen Marktvolatilitäten unbekannt waren. Hier wird die Rechnungslegung wohl durch den Markt getrieben werden.“

 

 

 

 

Der IAS 19 ist für viele Industrieunternehmen zu einer strategischen Größe geworden und damit regelmäßig Thema auf LbAV. Weitere Beiträge zu dem Thema finden sich hier:

 

Studie zu Eigenkapital, Rating, Kredit, M&A:

Handlungsbedarf durch IAS 19 revised

 

 

 

IAS 19 – nach einer Planänderung oder Plankürzung (I):

Unterjährige Neuberechnung von Dienstzeitaufwand und Nettozins?

 

 

 

IAS 19 – Unterjährige Neuberechnung von Dienstzeitaufwand und Nettozins(II):

Jetzt auch bei erheblichen Marktschwankungen?

 

 

 

Was sind „qualitativ hochwertige Unternehmensanleihen“?

Absolut mit Spielraum

 

 

 

Setting the IAS 19 discount rate:

Towards a common and sustainable practice

 

 

 

IAS 19, Diskontierung und Niedrigzinsphase:

Faire Chance, sich von der AA-Interpretation zu lösen“

 

 

Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

LEITERbAV bemüht sich um diskriminierungsfreie Sprache (bspw. durch den grundsätzlichen Verzicht auf Anreden wie „Herr“ und „Frau“ auch in Interviews). Dies muss jedoch im Einklang stehen mit der pragmatischen Anforderung der Lesbarkeit als auch der Tradition der althergerbachten Sprache. Gegenwärtig zu beobachtende, oft auf Satzzeichen („Mitarbeiter:innen“) oder Partizipkonstrukionen („Mitarbeitende“) basierende Hilfskonstruktionen, die sämtlich nicht ausgereift erscheinen und dann meist auch nur teilweise durchgehalten werden („Arbeitgeber“), finden entsprechend auf LEITERbAV nicht statt. Grundsätzlich gilt, dass sich durch LEITERbAV alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen sollen und der generische Maskulin aus pragmatischen Gründen genutzt wird, aber als geschlechterübergreifend verstanden werden soll. Auch hier folgt LEITERbAV also seiner übergeordneten Maxime „Form follows Function“, unter der LEITERbAV sein Layout, aber bspw. auch seine Interpunktion oder seinen Schreibstil (insb. „Stakkato“) pflegt. Denn „Form follows Function“ heißt auf Deutsch: "hässlich, aber funktioniert".

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