Das Forum für das institutionelle deutsche Pensionswesen

Kassandra:

Die kommentierte Presseschau zur bAV

Jeden Freitag bringt LEITERbAV eine kommentierte Presseschau zur bAV. Heute: Vertriebe? Schulungen? Argumente am Kunden testen?

Letzten Freitag musste die Kassandrische Presseschau einer Meldung über den VFPK weichen. Dafür gibt es heute die doppelte Dosis. Im Einzelnen:

 

BAG (9. Februar): „Pensionskasse – Anpassung laufender Leistungen – Urteil vom 13.12.2016, 3 AZR 342/15.“

Nun liegt das wichtige Urteil 3 AZR 342/15 zur Anpassung laufender Leistungen respektive Rückwirkung des Paragrafen 16 BetrAVG vor (siehe die Berichterstattung auf LEITERbAV hier und hier).

Ob die Bundesregierung, die offenbar dezidiert eine andere Auffassung hat, hier nochmal nachlegen wird, bleibt abzuwarten, doch deutet einiges darauf hin. Zu klären wäre dann auch der Umgang mit Anpassungen, die Arbeitgeber in der Vergangenheit abseits der Escape-Klausel bereits vorgenommen haben.

 

FAZ (7. Februar): „Betriebsrente – Warum es keine Garantien mehr geben soll.“

Die Frankfurter gibt einen gut verständlichen Überblick über die gegenwärtige Garantiediskussion im Zuge der bAV-Reform. Fachlich wirklich zu bemängeln gibt es wie üblich wenig bis nichts, doch ein Absatz in dem Beitrag muss stutzig machen. So erläutert der Autor mehrere Argumente der Assekuranz gegen das Garantieverbot, unter anderem den Einwand, dass das Sicherheitsbedürfnis der Deutschen hoch sei. Doch eben dieses will der Autor nicht ohne weiteres gelten lassen, und er schreibt:

Vertriebe lassen sich schulen, das Argument, dass Garantien hohe (Opportunitäts-) Kosten verursachen, wurde bislang am Kunden noch nicht richtig getestet. Wollten Vorsorgeeinrichtungen diese Entlastung, wäre das auch Arbeitnehmern vermittelbar. Doch die Versicherer fürchten um eines ihrer verbliebenen Alleinstellungsmerkmale im Wettbewerb.“

Das kann man inhaltlich vielleicht nachvollziehen, oder man kann es lassen (immerhin, dass die Versicherer vor allem ein Alleinstellungsmerkmal im Auge haben sollen, dürfte wohl stimmen). Doch was aufstößt, sind gleich die ersten Worte des Absatzes:

Vertriebe? Schulungen? Argumente am Kunden testen?

Nun, wenn sich da draußen in der (Medien-) Welt der Eindruck festsetzen sollte, dass die bAV in dem neuen Tarifpartnermodell über Vertriebler samt ihren Schulungen und Tests an den (kleinen) Mann und das kleine Unternehmen gebracht werden soll, dann täte die Politik sehr gut daran, nicht nur hier offenkundig vorliegende Kommunikationsdefizite zu korrigieren, sondern in ihrer Regulierung des Modells dringend neben dem Ausschluss von Garantien auch einen sicheren Ausschluss direkter oder versteckter Provisionen zu verankern.

Denn will man wissen, wie ein krachendes Scheitern der bAV-Reform aussähe? Stellen Sie sich einfach einen der typischen Vertreter der altbewährten, strukturierten Drei-Buchstaben-Vertriebe vor, die draußen die Tarifparteien belagern, um Mandate buhlen und dann Geringverdiener und Kleinunternehmen mit neuen bAV-Produkten beglücken, standesgemäß verprovisioniert und möglichst auch noch regelmäßig umgedeckt natürlich…

Wie sagte die parl. StS Fahimi jüngst auf der Chemie-Tagung:

Wenn wir am Ende nur Rückgänge in den bestehenden Systemen haben, aber ein Scheitern in der reinen Beitragszusage konstatieren müssen, dann fahren wir alle drei – Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Politik – gemeinsam an die Wand.“

 

ifo (30. Januar): „Deutschland 2016 Weltmeister beim Kapitalexport – USA beim Kapitalimport.“

FAZ (26. Januar): „Der Dax ist fest in ausländischer Hand.“

Zwei Meldungen, bei denen man sich – auf den ersten Blick – fragt, wie sie zusammenpassen. Erst mal muss zustimmend betont werden, dass das ifo-Institut anders als die meisten Medien in Deutschland nicht stumpf vom „Exportweltmeister Deutschland“ redet, sondern die Sache schon in der Headline auf den Punkt bringt, auf den es ankommt: Deutschland exportiert nicht nur Güter, sondern auch Kapital. Richtigerweise heißt es in dem ifo-Beitrag:

Überschüsse in der Leistungsbilanz (Waren, Dienstleistungen, Zinsen, Löhne, Übertragungen) bedeuten Kapitalexporte, Defizite sind Kapitalimporte.“

Nun, damit dürfte für die Mehrheit der deutschen Journalisten bereits die tolerierbare Komplexitätsschwelle überschritten sein. Daher sei es hier etwas flapsig und überspitzt auf den Punkt gebracht: Deutschland schickt den Mercedes ins Ausland und das Geld, mit dem er bezahlt werden soll, gleich hinterher – oder vorab, je nachdem.

Nicht unerwähnt bleiben soll angesichts der aktuellen Zahlungsbilanzen auch der Aspekt, dass die deutsche Volkswirtschaft Rekordexportüberschüsse, Rekordbeschäftigung und Rekordsteueraufkommen nach wie vor nicht zuletzt in Rekordstaatsverschuldung und Rekorddefizite (derzeit durch die Sparerenteignung mittels Niedrigzins nur kaschiert) und (gefühlten) Rekordverfall der Infrastruktur umsetzt.

Der hohe Export sichert in Deutschland – so er denn überhaupt noch hier manufakturiert wird – im wesentlichen Technologie und Arbeitsplätze (darunter allerdings viele prekäre). Das ist zugegebenerweise nicht wenig, aber zu wenig. Schließlich könnte bei gleichem Effekt auf Technologie und Arbeitsplätze die industrielle Kapazität, die für den Export produziert, auch für heimischen Verbrauch, Konsum und Infrastruktur eingesetzt werden. Und nüchtern betrachtet gilt, dass wer Exportüberschüsse erzielt, echte Güter gegen nominale Werte tauscht, die am Ende nichts als einen Anspruch auf was auch immer darstellen (hinzu treten nicht minder wertlose Target-2-Salden und Rettungsschirme).

Festgehalten werden muss daher: Wer jahrzehntelang Exportüberschüsse erzielt und seine Bilanz praktisch niemals in Importüberschüsse dreht, die ganzen angehäuften Nominalwerte also niemals in reale Güter zurücktauscht, hat schlussendlich mit Zitronen gehandelt. Die deutsche Volkswirtschaft ist nach wie vor nicht in der Lage, ihre industrielle Spitzenposition und ihre Exportstärke in gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt zu transformieren. Die öffentlichen Defizite, die erwähnten Mängel in der Infrastruktur des Landes, die im europäischen Vergleich lächerlich geringen Privatvermögen, die bescheidenen Deckungsmittel in der betrieblichen Vorsorge, das ungedeckte gesetzliche Renten- und Beamtenpensionssystem sowie natürlich das Fehlen eines echten bundesstaatlichen Pensionsfonds, gefundet mit internationalen Real Assets, sind nur ausgewählte Belege für diese These.

Der neue US-Präsident Donald Trump hat die Zusammenhänge zwischen industriellem Output, Zahlungs-, Leistungs- und Kapitalbilanzen sowie Wechselkursen und Fiat-Money-Systemen offenbar nicht erkannt, wenn er Deutschland und China wegen ihrer Exportüberschüsse angreift. Bei Licht betrachtet haben die USA ihre Produktionskapazität bei faktischer Vollbeschäftigung derzeit bereits regelrecht ausgeschöpft. Als größer Kapitalimporteur der Welt importieren sie also reale Güter, bezahlen diese mit selbstgeduckten Dollars (oder wie kurz vor der Subprime-Krise mit toxischen Securities), verkonsumieren damit mehr, als sie selbst herstellen können und lenken ihre eigenen industriellen Kapazitäten – da die Konsumgüter ja aus Deutschland und China kommen – in Defense-, Intelligence- und Hochtechnologie; und eben dort hat das Land bemerkenswerte, teils uneinholbare Spitzenpositionen aufgebaut. Sobald Trump diese Systematik erkannt haben wird, dürfte sein Wehklagen über die großen US-Leistungsbilanzdefizite merklich leiser werden.

Doch wirklich brisant wird das ganze erst, wenn man die FAZ-Meldung zum DAX in ausländischer Hand in die Betrachtung einbezieht. Denn Deutschland tauscht auf den Weltmärkten offenbar nicht nur erstklassige Industriegüter gegen Nominalwerte, sondern die Perlen seiner Industrie gleich mit (intellektuell weniger Bedachte feiern auch so etwas als „Exporterfolg“).

Zur Pathogenese: Das Problem hat nicht nur, aber auch mit der bAV zu tun. Denn nicht zuletzt infolge der Kombination aus einer starken ersten Umlagesäule und einer garantieorientierten dritten Säule – deren Asset Allocation daher vor allem aus Nominalwerten besteht – hat es Deutschland fertiggebracht, trotz guten 250 Milliarden Euro Exportüberschüssen pro Jahr zum Gegenstand eines internationalen Ausverkaufs zu werden. Vor allem hat es das Land nie geschafft, im internationalen Vergleich große Pensionseinrichtungen zu entwickeln – weder als Staatsfonds noch in den Tarifparteien noch in der Wirtschaft – die in nennenswerten Größenordnungen Industriebeteiligungen, Infrastruktur oder sonstige Real Assets akkumulieren. Anders als in vielen Industriestaaten, bei denen die großen Pensionsfonds sichtlich dazu beitragen, Real Assets im Ausland zu akkumulieren (besonders prägnant ist das in dem recht bevölkerungsarmen Kanada, aber auch in Südkorea, Chile, Norwegen und den Ölstaaten), fehlt ein solcher Effekt hierzulande fast völlig.

Ein Land, das seit Jahrzehnten sagenhafte Leistungsbilanzüberschüsse produziert und ebenso sagenhafte Rettungsschirme für seine Nachbarn finanziert, sollte eigentlich in großem Stil Auslandsvermögen anhäufen. Doch das Gegenteil scheint der Fall: Mit dem DAX gerät ein Kernstück der deutschen Volkswirtschaft schon seit Jahr und Tag zunehmend unter die Kontrolle ausländischer Anleger (ein Prozess, der mit der Auflösung der Deutschland AG in der Amtszeit ausgerechnet des Sozialdemokraten Gerhard Schröder begann), und der Prozess wächst sich offenbar sukzessive durch alle Branchen, wie man an den neulichen Beispielen Aixtron oder Kuka beobachten konnte. Allein 2016 haben Güter in der Größenordnung von 255 Milliarden Euro Deutschland verlassen, für die kein realer Gegenwert eingeführt worden ist – und so geht es Jahr um Jahr, Jahrzehnt und Jahrzehnt…

Wenn Kassandra eben gemault hat, dass dieser Problemkomplex in deutschen Medien regelmäßig nicht erfasst wird, dann sollen auch Gegenbeispiele nicht fehlen. So hat FAZ-Herausgeber Holger Steltzner in seinem Kommentar Ende 2013 unter dem Titel „Dummes deutsches Geld“ scharfe Kritik an der Entwicklung geübt. Kassandra hatte schon in der damaligen Presseschau nichts an dem Beitrag zu bemängeln – außer den Titel, denn es ist in Deutschland nicht das Geld, das dumm ist.

Vielleicht hat das ganze aber auch ein gutes, zumindest unter dem Gesichtspunkt der Qualität der Governance. Denn was passiert, wenn statt ausländischer Investoren – die übriges zumeist mit strikten Governance- und Compliance-Regeln ausgestattet sind – beispielsweise der deutsche Staat große Aktienpakte hält, kann man in diesen Tagen exemplarisch in Wolfsburg beobachten. Dann vielleicht doch lieber Kanadier und Norweger.

 

Süddeutsche Zeitung (29. Januar 2017): „Kommentar: Kapitalismus für alle.“

Hier nochmal korrespondierend zu der Problematik, diesmal in Sachen Belegschaftsaktien. Der Artikel gibt sich zunächst überrascht:

Vor Kurzem sorgte Siemens-Chef Joe Kaeser mit einer Idee für Aufsehen, die man vom führenden Kopf eines der größten deutschen Industrieunternehmen nicht unbedingt erwartet hätte: Der Konzernchef regt an, dass Angestellte künftig mit Belegschaftsaktien fürs Alter vorsorgen sollen.“

Warum soll man das von einem Konzern-Chef nicht erwarten, zumindest wenn er strategisch denken kann? So, wie man als Unternehmenslenker bei ungefundeten Pensionsrückstellungen konstatieren kann, dass es schlimmere Gläubiger gibt als die eigenen Mitarbeiter (abgesehen vom derzeit lohnenswert niedrigen Zinsniveau, um DBO elegant off-balance zu bringen), kann man bei Belegschaftsaktien durchaus die Auffassung vertreten, dass es analog schlimmere Aktionäre gibt als die eigenen Mitarbeiter.

Doch das Wichtige kommt erst noch. Korrekt kritisiert die Kommentatorin, dass die Altersvorsorge der Deutschen vornehmlich umlagefinanziert ist und dort, wo kapitalgedeckt, vornehmlich auf Fensterverzinslichen basiert. Jedoch:

Höchste Zeit also, verstärkt in Sachwerte zu investieren. Nur leider sind die Deutschen Aktienmuffel. Sie begeistern sich vielleicht für Immobilien und Gold. Wenn aber Aktien der Altersvorsorge dienen sollen, schrecken sie zurück. Dabei sind Aktien die einzig logische Alternative in einer Zeit extrem niedriger Zinsen und langsam wachsender Inflation.“

Die Frage, ob eine solche Maßnahme auch den industriellen Ausverkauf dieses Landes bremsen könnte, spricht die Kommentatorin zwar nicht an, doch gehört dies zu der Problematik dazu. Auch hier könnte eine Beteiligung der Mitarbeiter an ihrem Unternehmen zur Abhilfe beitragen. Einige ungeschickte Versuche der Politik sind in der Vergangenheit jedoch schon weitgehend gescheitert, und der Kommentar spricht auch das Klumpenrisiko an (es sei hier übrigens an den Fall Enron erinnert).

Daher schlägt die Kommentatorin einen „vom Staat systematisch geförderten und vom Betrieb unterstützten“ Fonds vor, der sich an vielen Unternehmen beteiligt.

Das ist eine gute Idee, wenn auch nicht neu. Denn wie nennt man einen solchen Fonds? Richtig: Pensionsfonds (respektive Pensionskasse). Und wo regelt man einen solchen Fonds? Richtig: im Betriebsrentengesetz. Und haben wir solche Fonds schon? Ja, schon über hundert Jahre. Und funktionierts? So leidlich; sind in der globalisierten Niedrigzins-Welt von heute halt zu klein und investmentseitig fehlreguliert. Wird das nach der bAV-Reform nun besser? Abwarten, könnte aber sein.

 

Die Welt (30. Januar): „Mario Draghis abwegige Auslegung der Inflation.“

Es sei hier daran erinnert, dass Mario „Glauben Sie mir es wird reichen“ Draghi seit Amtsantritt ständig neue Gründe hatte und weiterhin hat, um die Geldpressen auf Hochtouren laufen lassen. Dabei war ihm nicht nur keine Maßnahme zu monströs, sondern auch kein Argument zu realitätsfern und von zu geringer Halbwertszeit: Erst waren es angeblich zu hohe Zinsen der Krisenländer, die längst wieder pervers niedrig sind; dann war es die angeblich zu stockende Kreditvergabe; schließlich die Chimäre der Deflation.

Nun steigt die Inflation, doch ist es ihm immer noch nicht recht, wie die Welt in dem verlinkten Beitrag sichtlich unwirsch zu berichten weiß.

Doch deuten all die ständig neuen Begründungen immer wieder darauf hin, was des Italieners wahres Ziel ist: Nämlich all die durch billiges Geld entstandenen, völlig an allen realwirtschaftlichen Notwendigkeiten vorbeigehenden Strukturen in den südeuropäischen Krisenländern – sei es im öffentlichen Sektor oder im Bankensektor – durch noch billigeres Geld irgendwie über die Krise zu retten, indem er Teile der überlaufenden Staatsschulden verschwinden lässt.

Und was könnte dies für die Zukunft heißen? Nun, unter anderem, dass Draghi und die Euro-Europäer die Geister, die sie riefen und weiter rufen, irgendwann vielleicht nicht mehr los werden. Oder, um es mit einem alten, heute weitgehend vergessenen Bonmot deutscher Notenbanker zu sagen: Wer mit der Inflation flirtet, wird irgendwann von ihr geheiratet.

 

 

OFF TOPIC – TO WHOM IT MAY CONCERN

Berliner Zeitung (7. Februar): „SPD-Umfragehoch – Meinungsforscher stellt den jüngsten Trend in Frage.“

Kassandra – mit ihrer Meinung wie so oft allein auf weiter Flur – hat schon oft beunkt, dass die weiland dominante Union sich unter Angela Merkel marginalisiert hat, schließlich hat die Kanzlerin hat sich in ihren Amtszeiten schon so manch strategischen Klops geleistet. Genannt seien nur ihre personalpolitischen Fehlgriffe (vor allem bei der Inauguration von Christian Wulff als Bundespräsident), ihr äußerst unkluger Ausstieg vom rot-grünen Atomausstieg, aus dem sie nach Fukushima dann wiederum einsteigen musste und den die CDU mit dem Verlust Baden-Württembergs zu bezahlen hatte; überhaupt ihre Neigung, Landtagswahlen für die CDU gleich im Dutzend zu verlieren; ihre hilflose Passivität in der NSA-Affäre oder ihre „alternativlose“ Weiter-so-Politik in der Griechenlandfrage – die Liste ließe sich fortsetzen.

Resultat heute ist eine CDU, die am Vorabend der Merkeldämmerung marginalisiert ist, die im Bund mit Ach und Krach in einer großer Koalition regiert, die einschließlich CSU gerade noch ganze fünf von 16 Ministerpräsidenten stellt (SPD neun), an nur noch sieben Landesregierungen beteiligt ist (SPD 13) und folglich im Bundesrat kaum noch eine Rolle spielt, von den Rathäusern deutscher Großstädte ganz zu schweigen.

Für jeden, der das nicht sehen oder wahrhaben wollte, tritt ebendiese Marginalisierung nun aber offen zutage: In einer neulichen Umfrage soll die SPD unter Neu-Kandidat Martin Schulz schon vor der Union liegen. Ein solches Ergebnis hätte zwingend das zur Folge, was heute im Bundestag rechnerisch längst möglich ist (und Sigmar Gabriel sich nicht umzusetzen traute) sowie jüngst im Stadtstaat Berlin vorexerziert worden ist: eine rot-rot-grüne Koalition, neudeutsch R2G genannt (übrigens nicht zu verwechseln mit R2D2).

Angesichts der gegenwärtigen deutlichen linken Bundesratsmehrheiten hätte eine R2G-Koalition sagenhafte Gestaltungsmöglichkeiten, wie sie in der Geschichte der Bundesrepublik wohl einmalig wären. Auch wenn die CDU sich unter Merkel massiv sozialdemokratisiert hat, müsste unter einer R2G-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat mit nicht weniger als dem Totalumbau des ganzen Landes gerechnet werden – das beträfe wohl alle relevanten Politikfelder: Europa- und Euro-Rettungspolitik, Bildungspolitik, Fiskal- und Geldpolitik, Wohnungsbaupolitik, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik und vor allem: Rentenpolitik.

Namentlich die derzeit mühsam auf den Weg gebrachte Reform der bAV, die Anfang 2018 inkraft treten soll, könnte dann sehr schnell Makulatur werden. Stärkere zweite Säule? Und das noch mit reiner Beitragszusage? Ein Gespräch mit Matthias Birkwald, dem Rentenpolitischen Sprecher der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag, reicht, um festzustellen, dass seine Partei diese Kröte kaum schlucken würde.

Dass dann auch die Abschaffung der pKV und die Überführung ihrer Altersrückstellungen in die Bürgerversicherung stattfände, ist da nur noch eine Randnotiz.

Für die CDU bedeutete der Verlust der Macht im Bund übrigens die endgültige Marginalisierung, den Verlust fast aller politischer Gestaltungsmacht in Deutschland, den Rückzug Merkels aufs Altenteil (oder nach Brüssel) sowie schließlich die Neuaufstellung vermutlich als rechtskonservative Partei unter Jens Spahn (der die AFD mit dieser Strategie klein halten dürfte).

Wie dem auch sei, ist das R2G-Szenario überhaupt wahrscheinlich? Nicht sehr, und das aus mehreren Gründen:

  • Für die Umfrage mit dem Schulz-Effekt gilt: Neue Besen kehren gut. Sein positiver Effekt für die SPD wird sich geben (interessant in diesem Zusammenhang ist, dass in der hier verlinkten Berliner Zeitung der Wahrheitsgehalt der betreffenden Umfrage von einem Wahlforscher angezweifelt wird).
  • Schulz ist unerfahren im Bundestagswahlkampf. Dies wiederum kann man Merkel nicht nachsagen. Und das wird Schulz noch zu spüren bekommen.
  • Die Union wird vermutlich mit der Aussage „Wer AFD wählt, bekommt R2G“ in den Wahlkampf ziehen – und diese Aussage unterschwellig auf die FDP ausdehnen. Damit sind wir im Lagerwahlkampf, und hier kommt zum Tragen, dass in Deutschland strukturell immer noch eine strategische bürgerliche Mehrheit besteht, die sich angesichts der R2G-Perspektive um die Union scharen wird. AFD und FDP sind damit die Hauptleidtragenden der neuen strategischen Gemengelage – zu Gunsten der CDU.
  • Und schließlich wird die CDU auch im nicht kleinen, mittigen Wechselwählersegment zwischen CDU und SPD diejenigen auf ihre Seite ziehen, die eine R2G-Aussage der SPD grundsätzlich nicht tolerieren.

Ergo wird die CDU deutlich stärker abschneiden, als es die Umfragen heute voraussehen. Wenn dann gleichwohl AFD und FDP noch in den Bundestag einziehen (also zwei Parteien mehr als heute, sechs Fraktionen insgesamt), ist der Traum der SPD von einer R2G-Mehrheit ausgeträumt, bevor er richtig begonnen hat.

Wirklich denkbar ist das R2G-Szenario nur dann, wenn die Union (so wie im gegenwärtigen Bundestag) SPD, Grünen und Linken allein gegenüberstünde. Das kann nach Lage der Dinge aber paradoxerweise nur dann der Fall sein, wenn die CDU mit ihrem Feldzug zu erfolgreich sein sollte: Denn wenn die CDU mit ihrer Kampagne soviele Wähler von AFD und FDP absaugen sollte, dass BEIDE außerhalb des Parlamentes bleiben, dann – und nur dann – wird es für R2G reichen. Allerdings ist auch das Szenario relativ unwahrscheinlich: Für die FDP kann die kommende Anti-R2G-Kampagne der CDU zwar in der Tat das neuerliche Aus bedeuten (man kann anhand des verzweifelten Diskussionsstils Christian Lindners bereits merken, dass er diese Gefahr erkannt hat), doch für die AFD dürfte es auf jeden Fall reichen.

Ergo ist nur ein Szenario im Deutschen Herbst 2017 real: die erneute große Koalition (ersatzweise, aber weniger wahrscheinlich Schwarz-Grün).

An der eingangs geschilderten strategischen Marginalisierung der CDU ändert eine neuerliche Kanzlerschaft Merkels übrigens nichts, und auch nichts daran, dass es vermutlich Jens Spahn sein wird, der die Partei beizeiten neu und konservativ aufstellen wird. Die Zeichen der Zeit hat er anders als so manch andere in der Union jedenfalls längst erkannt.

 

Bild.de (31. Januar): „Nur einer kann Le Pen noch stoppen.“

Kassandra bei der Arbeit.

Kassandra bei der Arbeit.Vor einiger Zeit hatte noch Kassandra an den berechenbaren Gang der Dinge in der V. französischen Republik geglaubt und kalkuliert, dass der zwar nicht verdiente (da an dem Libyen-Desaster maßgeblich schuldige), aber gleichwohl gewiefte Fuchs Sarkozy schnell die republikanische Partei unter Kontrolle bringt, dann zur Präsidentenwahl antritt und schließlich in der Stichwahl mit den Stimmen der zähneknirschenden Linken Marine Le Pen in der gleichen Art schlägt wie 2002 Jacques Chirac deren Vater Jean Marie Le Pen. So sei sie eben, die der V. Republik inhärente Stabilität, erdacht von Charles De Gaulle und Michel Debré – so glaubte Kassandra.

Doch es kam anders. Zunächst führten die Parteien die Urwahlen ein, und erstes Opfer dieses neuen Momentes der (demokratisch durchaus wertvollen) Unberechenbarkeit des Wählers war ausgerechnet Polit-Profi Sarkozy. Gut, dann eben Francois Fillon – für den das gleiche in grün gilt, was vorher für Sarkozy galt: mit den Stimmen der Linken Sieg in der Stichwahl über Le Pen. Doch ausgerechnet dieser Fillion hat nun einen Veruntreuungsskandal zu bestehen, und ob er ihn auch übersteht, ist völlig unklar (kaum hat Fillion einen Vorwurf zumindest erklären oder entschuldigen können, legt das in der Sache federführende Satiremagazin nach, da es offenbar sein Pulver nicht auf einen Schlag verschossen hat).

Dann meldeten sich auch noch urplötzlich die schon scheintoten Sozialisten kraftvoll mit dem jungen Ex-Premier Manuel Valls zurück – der aber ebenfalls prompt in der Urwahl scheiterte. Das Wahlvolk entschied sich für den Hardcore-Linken Benoît Hamon. Doch bleibt der nicht ohne Konkurrent, denn ebenfalls auf der Linken tritt mit Emmanuelle Macron ein Parteiloser an. Klar ist die Sache also weder bei der nun auf zwei Köpfe verteilten Linken noch bei den taumelnden Bürgerlichen (wo so mancher schon den lachenden Sarkozy zurückkommen sieht), sondern nur bei dem FN Le Pens. Treffend formuliert die Bild-Zeitung:

Der französische Präsidentschaftswahlkampf droht aus dem Ruder zu laufen.“

Kassandra hatte immerhin schon früh eingeschränkt, dass die oben aufgemachte Rechnung mit dem unausweichlichen Sieg der konservativen Mitte zwischen links- und rechtsaußen nur für normale Zeiten gilt, und jeden Tag zeigt sich in der westlichen Welt aufs neue: Die Zeiten, sie sind nicht normal.

Damit bleibt auch das an dieser Stelle schon früh ins Spiel gebrachte Szenario auf der Tagesordnung, bei dem es in Frankreich bis aufs sprichwörtliche Messer ginge: Rechte und Linke gegeneinander in der Stichwahl – ohne das es in der Mitte ein gemäßigtes Lager gäbe, dass den schwächeren Flügel auf seine Seite ziehen kann. Die stabilitätsorientierte Grundstruktur der V. Republik verkehrte sich in ihr paradoxes Gegenteil. Kassandra hat für diesen Fall nicht einmal den Bürgerkrieg ausgeschlossen (und schließt auch keinen Coup d’État aus). Wer das als Spinnerei abtut, der muss auch Ex-Premier Valls als Spinner abtun, der genau hiervor ebenfalls gewarnt hat.

Mittlerweile hat die Zick-Zack-Entwicklung in Frankreich gar schon Auswirkungen auf die bAV (daher sollte diese Meldung wie die vorherige eigentlich gar nicht unter OFF TOPIC stehen):

Das Szenario eines Frexits unter dem FN ist schließlich kein für französische Sovereign-Investoren vielversprechendes (Marine Le Pen soll schon angekündigt haben, alte Euro-Schulden im Zweifel nur in neuen französischen Francs zu bedienen), und noch weniger gilt das für das Szenario des Vallschen Bürgerkrieges oder eines Coup d’État. Insofern kein Wunder, dass die Renditen der französischen Sovereigns stark ansteigen. Manch ein hier shorter Pensionsinvestor mag deswegen neue Kaufgelegenheiten ausmachen – während andere, die hier schon long sind, nun bereits erste stille Lasten aufbauen.

Allerorten in den Medien ist zu lesen, dass nach Brexit und Trump politische Risiken an den Märkten neu gepriced würden. Allerdings haben sich die negativen Folgen der beiden Wahlergebnisse für die Kapitalmärkte – insbesondere im Vergleich zu dem vorher von vielen Auguren angekündigten Katastrophen – in engen Grenzen gehalten. Das wäre nach einem Ausscheiden des konservativen Kandidaten in der ersten Runde der französischen Präsidentenwahlen vermutlich anders. Malt man sich die hier in den Raum gestellten Szenarien samt ihren Folgen auf die europäischen Märkte aus, die vielleicht nicht zwingend, aber doch zumindest nicht ausgeschlossen sind, dann hat man noch lange nicht den Eindruck, als seien die Risiken der kommenden französischen Wahlen angemessen gepriced.

Wahrhaftig, the times, they are a changing.

 

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Diskriminierungsfreie Sprache auf LEITERbAV

LEITERbAV bemüht sich um diskriminierungsfreie Sprache (bspw. durch den grundsätzlichen Verzicht auf Anreden wie „Herr“ und „Frau“ auch in Interviews). Dies muss jedoch im Einklang stehen mit der pragmatischen Anforderung der Lesbarkeit als auch der Tradition der althergerbachten Sprache. Gegenwärtig zu beobachtende, oft auf Satzzeichen („Mitarbeiter:innen“) oder Partizipkonstrukionen („Mitarbeitende“) basierende Hilfskonstruktionen, die sämtlich nicht ausgereift erscheinen und dann meist auch nur teilweise durchgehalten werden („Arbeitgeber“), finden entsprechend auf LEITERbAV nicht statt. Grundsätzlich gilt, dass sich durch LEITERbAV alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen fühlen sollen und der generische Maskulin aus pragmatischen Gründen genutzt wird, aber als geschlechterübergreifend verstanden werden soll. Auch hier folgt LEITERbAV also seiner übergeordneten Maxime „Form follows Function“, unter der LEITERbAV sein Layout, aber bspw. auch seine Interpunktion oder seinen Schreibstil (insb. „Stakkato“) pflegt. Denn „Form follows Function“ heißt auf Deutsch: "hässlich, aber funktioniert".

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